Die mitgelieferte Playlist zum Buch gibt den Takt vor: sommerlich-leicht wie der Song «If Life Could Be This Way» von Crazy P und melancholisch wie Stromaes «L’enfer». Zwischen diesen Polen bewegt sich auch die Protagonistin in Anika Landsteiners Roman «Nachts erzähle ich dir alles».
Die 35-jährige Léa nimmt sich nach einer strengen Arbeitsphase in ihrem eigenen Café und dem Liebes-Aus mit ihrer Freundin Toni eine Auszeit im Familien-Ferienhaus hoch über Saint Martin an der Côte d’Azur. Hier hatte sie sorgenfreie Kindheitstage verbracht – und zu dieser Unbeschwertheit hofft sie in der charmanten alten Villa «mit Blick aufs unendliche Blau» zurückzufinden.
Schicksalsschlag in der ersten Nacht
Doch es kommt alles anders als geplant. Gleich am ersten Abend lernt sie im Garten die 16-jährige, lebenshungrige Alice kennen, in der sie einiges von sich selbst in Jugendzeiten wiedererkennt. Sie verabredet sich mit ihr für den nächsten Tag. Dazu wird es aber nicht kommen: Wie Léa am nächsten Tag erfährt, liegt Alice im Koma und stirbt kurz darauf.
Was ist in der Nacht passiert? Das will auch Alices Bruder Émile wissen, der aus Paris anreist und bald bei Léa anklopft, weil sie vermutlich die Letzte war, die seine Schwester noch lebend gesehen hat. Anfangs wehrt sich Léa noch dagegen, in diese Geschichte hineingezogen zu werden, doch auch sie will wissen, was der jungen Frau widerfahren ist – und zum trauernden Émile entwickelt sich trotz des Altersunterschieds von 10 Jahren durch die tiefen Gespräche eine enge Beziehung.
Die Ausgangslage wirkt zwar etwas konstruiert, aber die 36-jährige Münchner Autorin und Podcasterin versteht es, ihre Leserinnen und Leser mit leichtfüssiger Sprache, packenden Dialogen und sinnlicher Beschreibung der südfranzösischen Küste in die Geschichte hineinzuziehen. In die vordergründige Sommerleichtigkeit mit Villa, Pool, knisterndem Flirt und kühlen Getränken mischen sich immer mehr existenziellere Themen rund um Leben, Liebe, Freundschaft und Tod, besonders aus weiblicher Sicht:
Wie selbstbestimmt sind Frauen heute im Vergleich zu früher, etwa was Mutterschaft, Schwangerschaftsabbruch oder ausgelebte Homosexualität anbelangt? Welche Möglichkeiten stehen ihnen offen?
Vielschichtige Frauenfiguren
Nebst Léa steht auch die ältere Frauengeneration im Fokus, ihre Mutter Brigitte und deren Freundin Claire: zwei starke Frauen, die aber andere Voraussetzungen hatten und einige ihrer Träume nicht verwirklichen konnten. Eingeschoben sind Briefe von Claire an Léa, welche die Beziehungskonstellationen im Roman nochmals aus anderer Sicht erhellen.
So zeichnet Anika Landsteiner mit ihren Frauenfiguren vielschichtige Charaktere ohne SchwarzWeiss-Schema, während der attraktive, erfolgreiche und achtsame Émile fast zu einseitig perfekt rüberkommt. Nichtsdestotrotz: Man verfolgt die Höhen und Tiefen dieser Sommerbegegnungen bis zum Schluss mit Spannung und spürt die Hitze der Côte d’Azur auf der Haut.
Anika Landsteiner
Nachts erzähle ich dir alles
368 Seiten (Krüger 2023)
Erhältlich ab Mi, 26.7