Dieses Gefühl kennen wohl alle: Endlich anzukommen am Meer, sich dessen Unendlichkeit genussvoll auszusetzen und das permanente Rauschen zum sanften Takt einer Auszeit zu machen. Genauso lässt Arezu Weitholz, 1968 bei Hannover geboren, die Ich-Erzählerin ihres neuen Romans ankommen.
Es ist Spätherbst, als diese das Hotel an der portugiesischen Algarve erreicht, das allerdings leer steht. Denn Frieda reist an, um das Hotel zu hüten und mit ihm den Haushund Otto. Um die Zimmer zu lüften, das Strandgut einzusammeln, den nächtlichen Feueralarm auszuschalten.
Am Meer sitzen und gucken
Frieda ist auch gekommen, weil sie ihre Stimme verloren hat. Was für eine Hörbuchsprecherin problematisch ist. Ihr Freund Jonas ist alarmiert und rät ihr zur Auszeit. Frieda lässt sich überreden und findet tatsächlich zur Ruhe: «Das ist der Vorteil des Alleinseins: Man wird beim Denken nicht gestört.»
Andererseits «ist man schnell damit fertig, mit diesem am Meer Sitzen und Gucken». Friedas Gedanken freilich kommen stetig mehr ins Drehen und beherrschen ihren Alltag bald ebenso wie das ewige Rauschen des Atlantiks.
Beim Beobachten der wenigen Wintergäste erinnert sie sich an ihre Familie, ihre Kindheit, ihr Zuhause. So wächst in ihr ein «Wohinweh» als Mischung aus Fern- und Heimweh.
Dass mit ihr «irgendetwas nicht stimmt», merkte Frieda schon als Kind. Nun wird ihr einiges klar auf ihrer Suche nach Heimatgefühlen, und sie weiss: «Ich war ein Pferd unter Kühen gewesen, das geglaubt hatte, es sei auch eine Kuh.» Ohne zu viel zu verraten, sei auf den persischen Vornamen der Autorin hingewiesen.
Ihre Gedanken führen Frieda schliesslich ins befreiende Reich der Zwischenräume. «Ich spüre, wie die Zeit nicht vergeht», denkt sie genüsslich. «In diesem kleinen, mickrigen Zwischenraum, der eigentlich viel zu klein ist, als dass man ihn Pause taufen dürfte, steckt die ganze Welt.»
Eine begnadete Beobachterin
Es wäre übertrieben zu sagen, dieser Roman komme ohne Handlung aus. Da ist Hund Otto, zu dem die Ich-Erzählerin eine schöne Beziehung aufbaut. Einen unheimlichen Eindringling enttarnt sie als Nachtwächter, und die temporäre Fernbeziehung zu Jonas ist so bewegt wie der atlantische Wellengang.
Dass «Hotel Paraíso» zu einer bereichernden Lektüre wird, liegt auch an der assoziativen Art, wie Weitholz die Erinnerungen der Protagonistin auf ihre Gegenwart prallen lässt – und umgekehrt. Zudem schreibt sie Sätze, die funkeln wie gebrochenes Sonnenlicht: «Der Nachmittag rekelt sich vor mir wie ein fauler Freund», schreibt sie. In einer Strandbar lässt sie Frieda einen älteren Herrn entdecken «mit einem Gesicht so abgekämpft wie eine in den Sechzigerjahren verputzte Wand».
Dieses wunderbare Beobachten und Beschreiben hat die Autorin als Reisereporterin gelernt sowie als Songschreiberin für Herbert Grönemeyer, Udo Lindenberg oder 2raumwohnung. Wer dieses Buch liest, fühlt sich wie Frieda, die auf der Veranda liegend frohlockt: «Ein watteweiches Nichts füllt den Tag aus.»
Buch
Arezu Weitholz
Hotel Paraíso
176 Seiten
(Mare 2024)