Whiskey und Scotch. Rum natürlich. Wein, Brandy, Bourbon. Im Haushalt Hemingway ist Alkohol sehr präsent. Sogar das zehnjährige Nesthäkchen trinkt sich mal einen Schwips an. Vor allem, wenn es sich wieder einmal vor seinem Vater beweisen muss.

Klug und empathisch erzählt Russell Franklin in seinem Debütroman die Lebensgeschichte von Gloria Hemingway, dem jüngsten Kind des US-amerikanischen Schriftstellers Ernest Hemingway. Wie fühlt sich das an, wenn die Bücher des eigenen Papas in der Schule durchgenommen werden? Der junge britische Autor macht in «Hemingways Kind» spürbar, welcher Druck auf dem Heranwachsenden lastet, der im Schatten des übermächtigen Vaters aufwächst.

Wie aus Gregory Gloria wurde

Gregory Hemingway ist intelligent, athletisch und ambitioniert, hadert jedoch mit den hohen Ansprüchen seines Vaters. Greg will ihm gefallen, ihn beeindrucken, wie ein Held aus einem von Papas Büchern sein. Im Alter von zehn Jahren wird er von Hemingway dabei überrascht, wie er die Kleider seiner Stiefmutter trägt. «Danach war nichts mehr wie davor gewesen, ganz gleich wie sehr er sich bemühte, der perfekte Sohn zu sein», schreibt Russell Franklin. Der Hemingway-Spross, der später Medizin studiert, heiratet und selbst Kinder hat, entdeckt schon früh seine weibliche Identität, unterzieht sich aber erst mit über 60 einer geschlechtsangleichenden Operation und nennt sich fortan Gloria.

Glorias turbulentes Leben ist geprägt von unterdrückten Gefühlen. Franklin gibt intime Einblicke in ihr Innenleben, schildert Träume und Erinnerungen in bildhafter Sprache. Selbstzweifel, Unsicherheiten, aber auch Glücksmomente werden hautnah miterlebt. Es ist schon ein wenig vermessen, sich in einen anderen, realen Menschen hineinzudenken und dessen Leben zwar nicht aus der Ich-Perspektive, aber aus dessen Sicht nachzuerzählen. Doch Franklin meistert die Mischung aus Fiktion und Wirklichkeit derart elegant und einfühlsam, dass der Roman ein verblüffend leichtes Lesevergnügen ist

Die in Fragmenten erzählte Geschichte umspannt sieben Jahrzehnte und spielt zwischen Havanna, Los Angeles, New York, Miami und dem Nordwesten der USA. Vor allem die Beschreibungen Kubas und der Finca Vigía, dem Landhaus, in dem der Pulitzer- und Literaturnobelpreisträger lange Zeit mit seiner Familie lebte, sind in satten Farben gehalten.

Franklin hinterfragt unsere Vorstellungen von Identität

Beim Lesen fragt man sich: Was ist real, was entspringt der Fantasie des Autors? Franklin hat gründlich recherchiert. Vieles basiert auf wahren Begebenheiten, auf Briefwechseln und Biografien, Gregory Hemingways Memoiren «Papa» (1976) sowie Ernest Hemingways Büchern. Auf dessen Roman «In einem anderen Land» (1929) geht auch der Originaltitel «The Broken Places» zurück. Der deutsche Titel macht die Verbindung zu Hemingway unmissverständlich klar.

Doch es geht um viel mehr als die Hemingways. Russell Franklin hinterfragt unsere Vorstellungen von Identität und stellt die binären Geschlechterrollen auf den Kopf. 

Buch
Russell Franklin
Hemingways Kind
Aus dem Englischen
von Michaela
Grabinger 464 Seiten
(Kein & Aber 2023)