Roman: Im Quecksilber-Rausch
Das Mediensterben wird Literatur: Im Roman «Krähengesang» spannt Stefanie Christ den Bogen bis in die Zukunft.
Inhalt
Kulturtipp 10/2023
Hans Jürg Zinsli
«Was jetzt nicht digitalisiert wird, stirbt analog.» Knapper könnte man die Kehrausstimmung in der Berner Medienlandschaft kaum formulieren. Aber was im Roman «Krähengesang» nach Fusionen, Entlassungen und anderen Strukturbereinigungen bleibt, ist die Journalistin Mina. Als menschliches Back-up eines anonymisierten Newsflusses ist sie im Jahr 2026 gerade noch geduldet, menschlich dafür gereift.
Ja, die Berner Autorin Stefanie Christ spannt in i...
«Was jetzt nicht digitalisiert wird, stirbt analog.» Knapper könnte man die Kehrausstimmung in der Berner Medienlandschaft kaum formulieren. Aber was im Roman «Krähengesang» nach Fusionen, Entlassungen und anderen Strukturbereinigungen bleibt, ist die Journalistin Mina. Als menschliches Back-up eines anonymisierten Newsflusses ist sie im Jahr 2026 gerade noch geduldet, menschlich dafür gereift.
Ja, die Berner Autorin Stefanie Christ spannt in ihrem jüngsten Roman einen weiten Bogen. Als ehemalige Kulturchefin der «Berner Zeitung» kennt sie die Abläufe in Medienhäusern so genau, dass sie diese fast nebenbei erzählen und Raum schaffen kann, um nah an der Heldin zu bleiben.
Fake-News und eine rebellierende Heldin
Der Roman beginnt mit Minas Beobachtungen 1989, als Krähen die Müllsäcke auf Balkonen aufreissen, die Nachbarn aber Kinder beschuldigen, dass sie Unrat im Hof verstreuten. Fake-News avant la lettre, worauf die noch kleine Heldin rebelliert und zur Feder greift.
Später wird sie als Videojournalismus-Praktikantin auf den sonderbaren Hank stossen, der wegen seiner Arbeit in einer Partyartikel-Fabrik an einer Quecksilbervergiftung inklusive Halluzinationen leidet, in seiner Verzweiflung gar zu Minas Stalker mutiert und sich schliesslich umbringt.
Solche Desaster machen die Heldin indes nur stärker – krebskranker Vater, fahnenflüchtige Lover und nächtliche Fabrikbesuche mit eingeschlossen. Allerdings braucht es Zeit, bis Mina den Vertuschungsskandal in der Fabrik mit Fakten belegen kann. Aber dann wartet schon die nächste Katastrophe um die Ecke, um von dieser unerschütterlich optimistischen Heldin absorbiert zu werden. Einziger Schwachpunkt des Romans: Von jenen Schreibfehlern, die Internet-Youngsters («die den versierten Schreibern die Jobs wegnehmen») zur Last gelegt werden, hat es auch in diesem Buch zu viele.
Buch
Stefanie Christ
Krähengesang
308 Seiten (Knapp 2023)