Bis ganz oben an die Decke türmen sich die 33 000 Bücher auf elf Meter hohen Regalen in der Hotellobby auf dem Zürcher Lö-wenbräu-Areal. Mitten in diesem Poetenparadies sitzt Catalin Dorian Florescu. Vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat er Bücher für Recherchezwecke und die Abstimmungsunterlagen. Hier erzählt der schweizerisch-rumänische Autor von seinem Roman «Der Feuerturm», für den er jahrelang recherchiert hat – in Büchern, Filmen und vor Ort in Bukarest, in Gesprächen mit Zeitzeugen. Im Mittelpunkt steht die Feuerwehr Familie Stoica in Bukarest. Florescu berichtet über fünf Generationen hinweg von ihren Schicksalen – von 1892, als der Feuerturm erbaut wurde, bis 1989, als die kommunistische Diktatur unter Nicolae Ceausescu fiel.
kulturtipp: In diesem Bücherparadies kann man sich von unzähligen Geschichten inspirieren lassen. Wie finden die Geschichten zu Ihnen – welches Bild stand etwa am Anfang Ihres neuen Romans?
Catalin Dorian Florescu: Ganz am Anfang stand ein Gespräch mit einer Rumänin. Sie hatte mir von ihrem Vater erzählt, der in den Terrorjahren der Kommunisten in den 50ern ein politischer Gefangener war. Er war von seinem besten Freund verraten worden. Dieses Schicksal ist der Kern meiner Geschichte. Ich habe diesen Mann in den Karpaten besucht und bin dann nach Bukarest gefahren. Dort ist mir der Feuerturm aufgefallen: ein massiver, mächtiger Turm mitten im Verkehrsgewühl. Er stand dort, als die Rote Armee Bukarest besetzte. Als die rumänischen Faschisten herrschten. Als Menschen auf der Strasse abgeführt und ermordet wurden. Oder als die Menschen im Kommunismus in einer grauen Realität der Unterdrückung lebten.
Was bedeutet der Feuerturm für Sie?
Als ich diesen Turm sah, passierte etwas in mir: In seinem Innern rumoren die Geschichten. Durch ihn kann ich neue Geschichten und Bilder entwickeln, die Fantasie spielen lassen. Er symbolisiert die Dauerhaftigkeit, die Unbeugsamkeit, die Widerstandskraft der Stadt und der Menschen. Er zeugt von der Kraft zu überleben, Krisen zu überdauern.
Welche Beziehung haben Sie zu Bukarest? Sie selbst sind ja im Westen von Rumänien aufgewachsen.
Während meiner Recherchen war ich mehrmals in Bukarest und bin im Taxi eines gebürtigen Bukaresters durch die Stadt gefahren. Wir hielten an Orten, wo Ereignisse stattfanden, die die Stadt erschüttert haben. Bukarest hat eine wechselvolle dramatische Geschichte, die Stadt wurde zwischen Ost und West hin- und hergeworfen. Anfangs hatte ich eher eine irritierende Beziehung zu Bukarest, das auf den ersten Blick nicht schön wirkt. Hinter der Zementhaut der Plattenbauten verbergen sich aber zuweilen Orte, die ursprünglich geblieben sind. Aber Ceausescu hat das Stadtzentrum in weiten Teilen zerstört. Ganze Viertel, viele historische Gebäude, Kirchen und Klöster wurden bei Nacht und Nebel mit dem Bulldozer niedergewalzt. Die Menschen mussten ihre Häuser und Gärten verlassen, an den Stadtrand in schnell hochgezogene Plattenbauten ziehen. Das hat viele traumatisiert.
Sie leben seit 1982 in Zürich, nähern sich schreibend aber stets Ihrem Heimatland Rumänien. Warum? Interessiert Sie der «magische Realismus» im Osten einfach mehr?
Ja, in Rumänien kann man den magischen Realismus noch verwenden. Die rumänische Kultur hat so viele Facetten, an die man mit Poesie anknüpfen kann. Dort gibt es nicht nur die nüchterne, konsumkapitalistische Welt. Die Schweiz hat natürlich viele Vorteile: Das Leben ist sicher und angenehm. Aber rundherum brodelt die ganze Welt, wir sind hier im Auge eines Orkans! Und diese Geschichten will ich erzählen. In Rumänien liegt ein Mysterium in der Luft. Es gibt noch etwas anderes als nur den Alltag des Wohlstands.
Auch Ihr Schreibstil steht in einer östlichen Erzähltradition. Sie beschreiben die Szenen detailreich, man fühlt sich beim Lesen etwa mittendrin in einer Prozession mit den Toten rund um den Feuerturm.
Die Details stehen alle an ihrem Platz, fügen sich zu einem Zweck. Es ist eine Erzählhaltung, die eine Welt beschreiben und zeigen will und nicht bloss behaupten. Gute Literatur funktioniert so, nur deutsche Gegenwartsliteratur oft genug nicht. Meine Lieblingsautoren Siegfried Lenz oder Edgar Hilsenrath fürchteten sich nicht, aus dem Vollen zu schöpfen.Man kann einen Text zu Tode reduzieren, eine anorektische Literatur schaffen, die vom Knochen fällt. Je mehr man streicht, desto abstrakter und verkopfter wird der Text – und desto weniger sinnlich.
Was bedeutet für Sie denn das Schreiben?
Schreiben soll keine Verpflichtung sein, weil man Schriftsteller ist. Es ist verbunden mit Freude, Inspiration, Tagträumerei. Diese poetische Haltung begleitet mich durch den Alltag, sonst hätte ich den Feuerturm in Bukarest gar nicht wahrgenommen. Diese Verzauberung durch einen Stoff, durch eine Idee gehört zum Schreiben. Ich will die Realität erzählen, aber sie mit poetischen, märchenhaften Elementen anreichen.
Gibt es etwas, das Ihre Figuren in Ihren Romanen verbindet – etwa die Suche nach dem Glück, nach der Freiheit?
Der Wille zur Freiheit und zur Selbstbestimmung verband all meine Figuren – bis zum «Feuerturm». Die Hauptfigur Victor, der als politischer Häftling durch die dunklen, feuchten Zellen des Gulags gegangen ist, hat zwar wie die Figuren meiner anderen Romane die Fähigkeit, nicht zugrunde zu gehen. Aber ab den 50er-Jahren kann er nicht mal mehr von der Freiheit träumen. Der Staat ist ein grosses Gefängnis – und er glaubt nicht mehr an die Freiheit, sogar als die Zeichen 1989 da sind und sich das Volk widersetzt. Seine Tochter Iana hingegen ist vom revolutionären Geist geprägt, sie geht 1989 für die Freiheit auf die Barrikaden.
Buchvernissage
Catalin Dorian Florescu im Gespräch mit Felix Schneider
Mi, 23.3., 20.00
Kaufleuten Zürich
Buch
Catalin Dorian Florescu
Der Feuerturm
358 Seiten
(C.H. Beck 2022)