«Was ich erzählen will, ist eine in jeder Hinsicht russische Geschichte, und russische Geschichten sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Sonntagsspaziergänge durch die ruhigen Alleen eines Zarskoje Selo, vielmehr handelt es sich meistens um ungemütliche Streifzüge durch übel riechende Gassen wie Tambow oder Odessa, mit hier und da eingestreuten Leichen auf oder unter Brücken, in oder unter Zügen.»
Diese düstere Atmosphäre schafft die Georgierin Ruska Jorjoliani in ihrem Debüt «Du bist in einer Luft mit mir». Der Roman spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts und schildert die Lebensgeschichte der beiden Freunde Dimitri und Viktor. Sie wachsen gemeinsam im russischen Dorf Miroslaw auf und studieren in Moskau. Dimitri wird Lehrer, Viktor Ingenieur. Zurück im Heimatdorf diskutieren sie beim Schachspiel über Politik.
Eine folgenschwere Antwort
Ihre Leben könnten so weitergehen, würde Dimitri nicht während eines Wutanfalls ein Bild Lenins aus dem Fenster werfen und sein alter Freund in einem Verhör gegen ihn aussagen: «Genosse Almasow: Haben Sie beobachtet, dass Ihr Freund Dimitri Gawrilowitsch Florensow die Revolution verraten hat?», wird Viktor gefragt. Und der antwortet: «Hören Sie, die Wahrheit ist, dass Dimitri Gawrilowitsch noch nie an irgendeine Revolution geglaubt hat.» Dimitri wird daraufhin in ein Arbeitslager geschickt. Viktor kann sich diesen Verrat niemals verzeihen und kümmert sich deswegen innig um den Sohn des Zwangsarbeiters.
«Du bist in einer Luft mit mir» ist mehr als eine Schicksalserzählung: Die Schriftstellerin schildert das Ende der Zarenzeit, die Russische Revolution 1917 unter Lenin, den Übergang zu Stalin. Es habe sie gereizt, über das «Sowjetregime, das Herz der Dunkelheit» zu schreiben. «Um meinen Platz in der Welt zu verstehen, musste ich mich diesem rätselhaften kulturellen und psychologischen Erbe stellen.»
Roman in ihrer Zweitsprache verfasst
Besonders bemerkenswert: Die Autorin hat den Roman nicht in ihrer Muttersprache geschrieben. Jorjoliani wurde 1985 im georgischen Mestia geboren, in den 90er-Jahren floh ihre Familie vor ethnischen Säuberungen in die Hauptstadt Tiflis, wo sie das italienische Gymnasium besuchte. Seit 2007 lebt sie in Palermo, wo sie ein Philosophiestudium abschloss. In ihrer Zweitsprache zu schreiben sei, «als würde man in einer besonderen Werkstatt arbeiten, wo die Werkzeuge italienische Wörter waren». Es ist beeindruckend, wie die Autorin in der später erlernten Sprache so elegant formuliert und klingende Wörter wie «Weisheitsventil» oder «Buchstabenhüter» erfindet.
«Aus unvorhersehbarem Blickwinkel»
Rund zwei Jahre arbeitete sie an ihrem Erstling. Das Schreiben sei für sie eine Herausforderung gewesen, zu überprüfen, inwieweit sie eine andere Sprache und Kultur angenommen habe. «Es hat mir geholfen, meine Herkunft aus einer anderen Sichtweise zu betrachten.»
Erzählt wird die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven, etwa aus der Sicht der Mütter und der Söhne. «Viele Dinge werden nur klar, wenn wir sie aus einem unvorhersehbaren Blickwinkel betrachten», begründet die Schriftstellerin ihre Arbeitsweise. Zwar verwirrt die Vielfalt an Stimmen gelegentlich, aber insgesamt ist die Geschichte so poetisch geschrieben, dass man das Buch nicht aus der Hand legen mag.
Buch
Ruska Jorjoliani
Du bist in einer Luft mit mir
216 Seiten
Aus dem Italienischen von Barbara Sauser
(Rotpunktverlag 2018)