Ein gewaltiger Streit hob an: «Rufe stiegen in den Himmel, Schläge hagelten nieder, alle die grösseren und kleineren Dichter lagen sich in den Haaren.» Mitten in dieser Keilerei auf der nächtlichen Oxford Street prügelten sich Dichter wie Lord Byron und Alexander Pope oder der Romantiker Percy Shelley.
Diese irrwitzige, fantasierte Begegnung mit den englischen Grössen des Wortes hatte John Truck, das Alter Ego des österreichischen Autors Hans Flesch-Brunningen (1895–1981). Dieser erkannte die Zeichen der Zeit gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und setzte sich 1934 von Berlin nach London ab. Dort schlug er sich zuerst mit Gelegenheitsjobs durch, unter anderem als Kellner im legendären Lyons Corner House am Marble Arch. Später arbeitete Flesch als Übersetzer und Autor, jahrelang war er für den deutschsprachigen Dienst der BBC tätig.
Nüchterne Beobachtung versus Halluzinationen
Flesch kam in Brünn als Sprössling einer wohlhabenden Familie mit jüdischen Wurzeln zur Welt, studierte Recht, lebte in Italien, Frankreich und bis zu seiner Flucht in Berlin. Flesch schrieb mehr als 20 Romane und verdiente sich den Lebensunterhalt mit Übersetzungen. Er war Sozialist, versagte sich indes dem parteipolitischen Aktivismus.
Im Jahr 1948 ist sein Roman «Perlen und schwarze Tränen» erschienen, den Edition Atelier nun neu aufgelegt hat. Der Autor schickt seinen Helden John Truck nach einem Besuch bei seiner angehimmelten Jane auf einen nächtlichen Trip durch London. Noch ist der Krieg nicht zu Ende; immer wieder schlagen V2-Raketen ein: «Die Leute oben im Haus waren ohne Blutvergiessen in die Luft geflogen; hier unten waren sie erstickt …», stellt Truck vor einer Ruine nüchtern fest. Diese Beobachtung kontrastiert mit seinen Halluzinationen, etwa wenn er auf der Suche nach einem Taxi ist: «Alle Wagen kehrten mir den Rücken zu. Das waren alles Feinde. Oder war ich vielleicht der Feind?»
Im zweiten Teil des Romans irrt der Protagonist Truck durch das Labyrinth der BBC in einem gigantischen Studio: «Dieses Gebäude, seiner Kriegsdienstverwendung nur unvollkommen angepasst, hatte viele Ecken, Winkel und Löcher, die unbenutzt waren.» Er verliert sich in grotesken Begegnungen, etwa mit zwei Aufseherinnen: «Sie befanden sich in einem Zustand nicht völlig unangenehmer Zersetzung …»
Eine unerfüllte Liebe als roter Faden
Die unerfüllte Liebe von John Truck für seine Jane ist der rote Faden dieses Romans, dem eine stringente Handlung fehlt. Trucks Hingabe zu seiner Angehimmelten hat etwas Zerstörerisches; Mordgedanken verfolgen ihn: «An ihrem Halse konnte man blaue Würgespuren sehen, und sie war tot», fantasiert er. Zum Schluss bleibt unklar, ob er wirklich zur Tat geschritten ist. Jane trägt Züge von Hilde Spiel, einer österreichischen Schriftstellerin, mit welcher der Autor eine turbulente Beziehung unterhielt und die er in späten Jahren heiratete.
Hans Flesch-Brunningen hatte in Paris einst James Joyce kennengelernt. Vieles in diesem wunderbaren Roman erinnert an dessen Meisterwerk «Ulysses». So durchzieht die «Erlebte Rede» den Erzählfluss: Der Leser sieht die zerbombte Metropole durch die Augen des ziellosen John Truck.
Perlen und schwarze Tränen
Hans Flesch-Brunningen
Hg. Evelyne Polt-Heinzl, 326 Seiten
(Edition Atelier 2020)