Grits Leben verlief «gerade wie ein Stamm». Was sie wollte, das erreichte sie. Eine Karriere in der Politik vielleicht, oder als Tierärztin – so genau erfährt man es nicht. Jedenfalls war sie erfolgreich. Und sie sprach mit den Tieren. «Sie hätte den Kühen nicht begegnen können und so tun, als hätten ihr diese nichts zu sagen. Sie sah, sobald sie den Stall betrat, hoben sie den Kopf. Klappten die Ohren nach vorn, nach hinten, wieder nach vorn. Kauten. Als müssten sie die Tage wiederkäuen.»
«Meine Welt reicht von hier bis zum Pinienbaum»
Grit und ihr Mann Hias bauen für sich und ihre Töchter Wanda und Iwa ein Bauernhaus um: «Das Haus war am Ende nichts als ein Knochengerüst. Aber wir lebten in seinem Herzen, nahe beim Ofen, und nie ist es uns besser gegangen.» Das hat Hias einmal gesagt. Bevor er sich in eine Frau aus der Stadt verliebt hat.
Der zweite Roman der Schweizer Autorin Noëmi Lerch mit dem Titel «Grit» beginnt viele Jahre später: Wanda ist längst erwachsen geworden und lebt mit Mann und Kindern auf dem kleinen Hof ihrer Eltern am Rande einer kargen Ebene. Kühe und Hühner, Hunde und Katzen gehen dort ein und aus. Früher hat Wanda einmal in der Stadt gewohnt und an der Universität studiert. Doch dann kehrte sie zurück, hat anders als die Mutter keine Karriere gemacht. Dafür geht sie jeden Morgen früh in den Stall und melkt die Kühe, taucht das Thermometer in den Kessel und gibt Lab hinein, schneidet die dickgewordene Milch und pflegt die runden Käselaibe. «Meine Welt reicht von hier bis zum Pinienbaum und wieder zurück. Mehr würde ich nicht ertragen, mehr würde ich mir nicht einmal wünschen, mit diesen Händen.»
Die Männer in Wandas Leben sind nie von Dauer gewesen: Vater Hias ist gestorben, ebenso der geliebte Onkel Gabriel, ihr erster Freund Nils ist abgehauen. Und Gunnar, der Vater ihrer Kinder, verbringt die Sommer schweigsam bei den Schafen auf den Weiden. Manchmal fürchtet Wanda, ihm könnte etwas zustossen. Dann zähmt sie die Angst: «Wenn ich keine Milch verschütte, wenn kein Haar in die Milch fällt, wenn kein Huhn in die Milch fällt, wenn die Milch nicht gerinnt, dann ist Gunnar nichts passiert.»
Der Grundton erklingt in Moll
Die alte Grit ist zu Wanda zurückgekehrt, eingehüllt in einen viel zu grossen Offiziersmantel. Jetzt steht sie am Fenster, blickt ziellos in die Ferne. Mutter und Tochter sind sich immer etwas fremd geblieben, und doch sind sie ohne einander nicht denkbar. «Trotz deiner Grösse überschattest du mich nicht», sagt Wanda. «Dein Schatten ist nur meine Landkarte. Ich wohne da und gehe bis dort, wo die Karte endet. Mein Land in deinem Schatten ist grösser als alles, was ich mir vorstellen kann, und noch lange kenne ich sie nicht alle, die Geheimnisse. Ich brauche deine Geschichten, um mich in meinem Land zurechtzufinden.»
Noëmi Lerch erschafft rund um das einfache Haus, die Tiere und Grits kleine Familie eine poetische Verwunschenheit. Fast jede der 100 Seiten des Romans hat eine eigene Melodie. Auf einem Grundton in Moll lässt Lerch mit ihren Worten immer wieder ihren Sinn für Schönheit, für die Sanftmut der Tiere und die menschliche Zuversicht erklingen.
Buch
Noëmi Lerch
«Grit»
100 Seiten
(Die Brotsuppe 2017).