Gabriele Santoro ist einsam, aber ganz zufrieden. Der Klavierlehrer geniesst professorale Hochachtung am Konservatorium, zieht sich ansonsten aber gerne in seine mit Büchern und Musik gefüllte Wohnung in Forcella zurück. Dieses Quartiert liegt im Herzen Neapels und zählt zu jenen Stadtbezirken, die Touristen auch tagsüber meiden sollten. Im selben Mietshaus lebt denn auch ein Handlanger der Camorra, wie Santoro merkt – allerdings zu spät. Dessen Sohn Ciro nämlich hat sich in Santoros Wohnung geschlichen. «Du musst mir helfen», flüstert der Junge bebend vor Angst. Nur mit Mühe erfährt der Musiker den Grund für Ciros Flucht: Der Zehnjährige hat unbedacht gegen die Regeln der Camorra verstossen. Aus einem Lausbubenstreich wird bedrohlicher Ernst.
Zum wagemutigen Handeln gezwungen
Diese Geschichte hätte wohl auch Roberto Andò selbst passieren können. Der 62-jährige Autor, Regisseur und Filmer kommt der Hauptperson seines neuen Romans «Ciros Versteck» sehr nahe: ein Intellektueller, der einer verhassten Realität entflieht, indem er in den alternativen Sphären von Musik und Poesie lebt. Zwar ist Andò kein Soziopath, sein vielfältiges kulturelles Engagement führt ihn zwingend mit Menschen zusammen. So arbeitete er intensiv mit den Autoren Leonardo Sciascia und Andrea Camilleri zusammen, er war Assistent von Regisseuren wie Federico Fellini oder Francis Ford Coppola. Der gebürtige Sizilianer versteht sich als Moralist, der einer von Dekadenz und Verbrechen geprägten Aussenwelt mittels klarer künstlerischer Stellungnahmen begegnet.
Etwas anders sein Protagonist Gabriele Santoro: Dieser versucht, das ihn umgebende Übel zu ignorieren, wird von Ciro aber zum wagemutigen Handeln gezwungen. Denn ihm ist klar, dass ein Kind immer nur Opfer sein kann, selbst wenn es zum Täter wurde. Ein humanistischer Ansatz, der diese exemplarische Geschichte ebenso prägt wie ihre hochpoetische Gestaltung. Roberto Andò stellt das moralische Paradox, das sich aus der unseligen Gleichzeitigkeit von staatlichen und mafiösen Regeln ergibt, auf die poetische Probe, indem er sprach-kräftige Denker zitiert, von Sophokles bis Elias Canetti oder Joseph Brodsky. Und immer wieder Konstantinos Kavafis: Die Verse des griechischen Lyrikers rezitiert Santoro beim Rasieren und beim Flanieren, in lust- wie schmerzvollen Momenten. Von beiden gibt es in diesem dichten, aber auch lichten Roman viele. Man spürt das pulsierende Stadtleben von Neapel, das Santoro auf seine Weise durchaus geniessen kann. Aber auch das brodelnde Innenleben dieses plötzlich vom Schicksal geprüften Mannes. Seinem Schützling gegenüber entwickelt er väterliche Gefühle, die seinen Lebensentwurf einschneidend verändern.
Roberto Andò hat «Ciros Versteck» – wie schon seinen ersten Roman «Il trono vuoto» von 2012 – selbst verfilmt. Beim Casting für die Rolle des Ciro hat er aus 1000 Schülern den talentierten Giuseppe Pirozzi ausgewählt. In Italien läuft der Film im Herbst an. Wann er in die hiesigen Kinos kommt, ist noch ungewiss.
Buch
Roberto Andò
Ciros Versteck
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
231 Seiten
(Folio Verlag 2021)