Sie kommen aus den USA, Japan, Grossbritannien, Italien und Russland: Die vier Astronauten und zwei Kosmonauten, die monatelang mit 28'000 Stundenkilometern in einer Raumstation um die Erde fliegen. Täglich machen sie 16 Erdumrundungen, die sie in immer weiter ostwärts führenden Kreisen um den Planeten jagen.
Die vier Männer und zwei Frauen sind eine Forschungscrew. Sie arbeiten an Experimenten, empfangen Nachrichten von der Bodenstation und schlafen schwebend in Röhren an der Wand. Wenn sie wach sind, kämpfen sie mit der Schwerelosigkeit und klauben weggeflogene Gegenstände aus den Filtern.
Sie essen vorgefertigte Menüs, unterziehen sich strikten Fitnessprogrammen, um die Muskelkraft nicht zu verlieren, und schauen immer wieder staunend aus dem Fenster auf die «majestätisch» wirkende Erde. Alle haben lange Ausbildungen und ausufernde Trainings auf sich genommen, um ins All fliegen zu können – ein Wunsch, der bei jedem sehr unterschiedlich motiviert ist.
«Umlaufbahnen» heisst der Roman, mit dem die Britin Samantha Harvey 2024 den Booker Prize gewann. Das höchst ungewöhnliche Werk behandelt die denkbar grössten Themen – Fragen zu Leben, Überleben und Tod genauso wie zu Zeit, Raum und Relativität.
Meisterhaft aufgebaut und erzählt
Die sechs Leute sind eng zusammengepfercht in einer kleinen Kapsel. In grosser Distanz schweben sie an der Erde vorbei. Ihr Blick auf den Heimatplaneten ist wissenschaftlich präzis, aber auch voller Faszination und Empfänglichkeit für die Schönheit des Planeten.
Die Wahl des Raumstation als Ort der Handlung und die Einteilung der Kapitel in die 16 Umlaufbahnen eines Tages an Bord illustrieren, wie gut Harvey die erzählerischen Stilmittel beherrscht. Eindrücklich sind auch ihre Art des Erzählens, die kenntnisreichen Beschreibungen technischer Details oder geografischer Besonderheiten, das bildhafte Reflektieren sowie das schnörkellose Benennen der Gefühle.
Harvey schreckt auch nicht vor grossen Worten zurück, gleitet aber nie in Pathos ab, sondern lässt ihren Text wirken, als ruhe er still in sich, als sei er selbst schwerelos. Da ist es einfach stimmig, dass die Weltraumreisenden immer wieder über die Rolle des Menschen sinnieren, seine Errungenschaften, seine Fähigkeiten, die ihn aber weder vor der Selbstzerstörung im Krieg noch vor der Vernichtung seines Lebensraums bewahren. Ein Buch, so grossartig wie schmerzhaft. Und hochaktuell.
Buch
Samantha Harvey
Umlaufbahnen
Aus dem Englischen von Julia Wolf
224 Seiten
(dtv 2024)