Ava will Robin mehr als Robin Ava. Silvia möchte mehr von Ava als Ava von ihr. Und Delia ist grundsätzlich verunsichert, aber auch darüber, wo Delia bei Ava steht. Eine Verkettung unglücklicher Umstände führt dazu, dass die vier plötzlich zusammen auf dem Dach eines Hochhauses ausgesperrt sind.
Es ist also kompliziert in diesem kammerspielartigen Setting. Alle Ausgesperrten sind mit Ava verbunden – über Sex, Gefühle, Begehren. Nach und nach taucht man in die einzelnen Geschichten ein. In jedem Kapitel erzählt eine andere Person, und für jede findet Yaghoobifarah eine ganz eigene Sprache. Delia ist trans.
Wenn Delia erzählt, sind alle Worte kleingeschrieben. Die Gedanken driften oft ab, mal kommen auf der Seite nur «~» zu stehen, mal windet sich eine Spirale mit Satzfragmenten gegen die Mitte der Seite. Man dreht sich mit, verliert sich in Delias wechselhafter Gefühlswelt und prallt kurz danach auf die geradlinigen, harten Sätze von Silvia.
Silvia kommt an jenem verhängnisvollen Abend mit einem klaren Plan zu Ava. Sie will sie zur Rede stellen. Ava meldet sich nicht mehr, obwohl sie den Altersunterschied zu Silvia mal «hot» fand. Ava hat aber gerade «messy» Sex mit Robin, die in einer Langzeitbeziehung mit einem Mann ist.
Auf dem Dach sind diese Menschen sich gegenseitig und sich selbst erbarmungslos ausgeliefert. Obwohl sie doch eigentlich haben ausbrechen wollen, wie man in ihren «Gay Origin Stories» erfährt.
Kein bequemes Buch – für niemanden
Yaghoobifarah spielt damit, wie sich die Figuren emanzipieren und gleichzeitig in neuer Form gefangen fühlen. Die heteronormative Mehrheitsgesellschaft wird seziert, und auch die queere Community wird nicht geschont. Transfeindlichkeit, Bi-Shaming, Ageism – alles kommt auf den Tisch beziehungsweise aufs Hochhausdach.
Nicht queere Menschen werden einige Ausdrücke oder Begebenheiten in den expliziten Sexszenen nicht auf Anhieb verstehen. Die vielen authentischen Anglizismen fordern zusätzlich heraus.
«Es muss irgendwas Irritierendes, Widerspenstiges haben, was sich so gegen Seichtigkeit von Belletristik irgendwie so wehrt», sagt Yaghoobifarah dem NDR über queeres Schreiben. Der Bayerische Rundfunk feiert das Buch als «ausgleichende Gerechtigkeit im Patriarchat der Literatur».
Und so ist «Schwindel» nicht bequem, für niemanden. Die vielen Zweifel der Figuren, ihre Angst, zurückgewiesen zu werden, ihr Navigieren zwischen Unverbindlichkeit und dem Wunsch nach Sicherheit sind schwindelerregend. Und um es in der Sprache des Romans auszudrücken, «relatable» – ob man queer ist oder nicht.
«Schwindel» folgt auf das Romandebüt «Ministerium der Träume». Auch Yaghoobifarahs Sammelband «Eure Heimat ist unser Albtraum», herausgegeben mit Autorin Fatma Aydemir, fand viel Beachtung. Yaghoobifarahs Taz-Kolumne «Habibitus» endete kürzlich, dafür hat Yaghoobifarah zusammen mit anderen 2023 die Literaturzeitschrift Delfi gegründet. In den Worten von Delia: «es gibt viel zu tun.»
Hengameh Yaghoobifarah
Schwindel
240 Seiten
(Blumenbar 2024)