Eine junge Frau steht auf einem Dach – wütend, verzweifelt, sprungbereit. Weit unter ihr versammelt sich auf dem Platz das schaulustige Volk, das die Tragödie miterleben will, teils hämische Kommentare rufend. Eine Geschichte, die sich so ähnlich tatsächlich zugetragen hat – und Ausgangspunkt für Simone Lapperts neues Buch ist.
Die junge Frau, die einen Tag und eine Nacht auf dem Dach ausharrt, ist in Lapperts Roman die rebellische Gärtnerin Manu. Sie ist zwar Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, wird aber fast nur durch Aussenperspektiven beschrieben: Lappert erzählt aus der Sicht von zehn Figuren, die unten auf dem Platz stehen. Etwa der Velokurier Finn, der bis über beide Ohren in Manu verliebt ist. Dass seine «schöne, stolze Manu» nun auf dem Dach steht, ist für ihn unbegreiflich, er schwankt zwischen Verzweiflung und Wut darüber, dass man ihn nicht zu ihr durchlässt.
Der Alltag gerät aus den Fugen
Der Polizist Felix wiederum versucht, die Situation mit Menschlichkeit zu meistern, wird aber von einer Erinnerung aus der Vergangenheit überwältigt. Und Manus Schwester Astrid, die von der Polizei herbeigerufen wird, sorgt sich zwar um ihre «Nunu», ist letztlich aber zu sehr in eigene Sorgen verstrickt – sie will ihre Kandidatur für das Bürgermeisteramt durch einen solchen Skandal nicht gefährden …
Finn, Felix und Astrid sind drei der zehn Protagonisten, die durch die Frau auf dem Dach aus dem Tritt geraten, deren Alltag aufgewirbelt und teilweise in neue Bahnen gelenkt wird. Simone Lappert veranschaulicht in ihrem Roman, dass es manchmal sogar befreiend sein kann, den Halt zu verlieren, um sich neu zu positionieren – auch wenn nicht immer ein Happy End lockt, weder in der Literatur noch im realen Leben.
Die 34-jährige, in Zürich lebende Autorin und Lyrikerin zeigt wie bereits in ihrem gelungenen Debüt «Wurfschatten» ein feines Gespür für die Menschen, ihre Ängste und Unsicherheiten. Abgründe eröffnen sich nicht nur in der verzweifelten Manu, sondern in jeder der zehn Figuren aus unterschiedlichen Altersklassen und sozialen Milieus.
Sensationslüsterne Schaulustige
Dass das Glück manchmal eine Falltür bereithält, die sich jederzeit öffnen kann, erfährt etwa die Protagonistin Theres. Sie führt mit ihrem Mann seit vielen Jahren einen kleinen Laden, der durch die kauffreudigen Schaulustigen nach langem wieder einmal gut läuft. Zur Feier des Tages verbringt das alte Paar einen Abend im Café auf dem Platz, wo sich die Leute «in zwielichtiger Idylle» versammeln. Theres setzt sich im Gegensatz zu den anderen mit dem Rücken zum Platz, damit sie Manu auf dem Dach nicht sehen muss …
Die neugierigen und sensationslüsternen Schaulustigen beschreibt Lappert schonungslos. In der Hoffnung auf möglichst viele Likes und Klicks auf Facebook oder Youtube filmen und fotografieren sie die Tragödie. «Der Sprung» ist dennoch kein düsteres Buch, zumal Lappert mit feinem Humor und funkelnden Sprachbildern die Facetten der Menschen mit all ihren Unzulänglichkeiten, aber auch liebenswerten Seiten auffächert. Ruhiger Fixpunkt im ganzen Geschehen ist Roswitha, die Wirtin des Cafés auf dem Platz, die mit kleinen Gesten Menschlichkeit beweist.
Lesungen
Mi, 4.9., 19.00 Literaturhaus Basel (mit Musik von Martina Berther)
Fr, 6.9., 20.00 Buchhandlung Schreiber Olten SO
Do, 19.9., 19.30 Literaturhaus Zürich (mit Musik von Martina Berther)
So, 22.9., 19.00 Aarau (Sofalesung: Anmeldung & Infos unter www.sofalesungen.ch)
Mo, 23.9., 19.30 Coal Mine Book Bar Winterthur ZH
Buch
Simone Lappert
Der Sprung
336 Seiten
(Diogenes 2019)
4 Fragen an Schriftstellerin Simone Lappert
«Die Brutalität der Situation hat mich nicht mehr losgelassen»
kulturtipp: Im Roman beschreiben Sie, wie sich Schaulustige wie im Kino mit Snacks und Getränken ver-sammeln, um der Tragödie zuzusehen. Die Sensationsgier, die fehlende Empathie, teil-weise auch offene Aggression scheinen überzeichnet. Die Ausgangslage für Ihren Roman basiert aber auf einem wahren Ereignis. Welche Abgründe haben sich Ihnen da eröffnet?
Simone Lappert: Bei dem Ereignis, das ich fiktionalisierend aufgegriffen habe, war ich nicht selbst mit dabei, verschiedene Menschen haben mir davon erzählt, und ich habe mit einer Angehörigen der Person auf dem Dach gesprochen. Was diese Angehörige sich in der Menge anhören musste, hat mich erschüttert, die Brutalität und Vielschichtigkeit der Situation hat mich nicht mehr losgelassen. Die Figuren und ihre Beweggründe im Roman sind jedoch fiktiv. Leider ist es kein Einzelfall, dass mutmasslich suizidgefährdete Personen von Schaulustigen, die sich teilweise stundenlang vor Ort aufhalten, zum Sprung in die Tiefe aufgefordert oder als Steuergeldverschwender beschimpft werden. In der Presse sind mehrere solcher Fälle dokumentiert, in verschiedenen Ländern. Auch bei Unfällen werden Rettungsbeamte immer wieder von Schaulustigen behindert, die versuchen, Filme oder Fotos zu machen, und dabei nicht selten ausfällig werden. Es war genau diese Frage danach, wie es in unserer Gesellschaft in solchen Momenten um die Empathie bestellt ist, die für mich am Anfang des Schreibprozesses stand, wie es zu solch einer Dynamik kommen kann.
In Ihrem Roman nehmen Sie zehn unterschiedliche Perspektiven ein. Nur ganz kurz am Anfang und Ende scheint die Sicht von Manu auf, der Frau auf dem Dach – der Figur, um die sich die Geschichte dreht. Warum haben Sie sich für diese Leerstelle entschieden?
Ich habe mich, abgesehen von der «Sprungszene», bewusst dagegen entschieden, aus Manus Perspektive zu erzählen, da mir wichtig war, nicht vollkommen aufzulösen, was sie in diese Situation gebracht hat, damit man sich als Leserin nicht einfach in die Beruhigung einer Erklärung zurückziehen kann.
«So gesamthaft gesehen ist das Nichtverrücktsein die eigentliche Anomalie», sagt die Wirtin Roswitha im Roman. Ihr Buch kreist auch um die Frage, was in der Gesellschaft als normal und «nicht normal» betrachtet wird. Welche Ant-wort wollen Sie in Ihrem Roman darauf geben?
In erster Linie lege ich Fragen aus. Die Figuren, die Manu streifen, tragen ja alle Fragmente der Emotionen in sich, die Manu auf dem Dach durchlebt. Und je näher man ihnen kommt, desto deutlicher wird, dass sie alle Abgründe in sich tragen. Finn, der Freund von Manu, macht seinem Unverständnis für die Schaulustigen an einer Stelle Luft, indem er sagt: «Die Verrückten sind immer die anderen, nicht wahr?» Letztlich ist keine der Figuren gefeit dagegen, selbst auf ähnliche Weise den Halt zu verlieren, und jede geht mit der Furcht davor anders um. Ihre Geschichte und ihre Erfahrungen, auch ihre Ängste beeinflussen das Bild, das sie sich von anderen und der Situation machen. Die Normalität, die sie für sich geltend machen, ist ein je eigenes Konstrukt.
Seit Ihrem Debüt «Wurfschat-ten» sind 5 Jahre vergangen. Wie hat sich Ihr Schreiben in diesen Jahren verändert, und inwiefern hat Ihre Arbeit als Lyrikerin einen Einfluss?
Bei mir sucht sich der Stoff, das Wortmaterial, seine Form. Manchmal wird Lyrik daraus, manchmal Prosa. Die Knoten, Widerstände und Unsicherheiten verändern sich mit den Themen und den Figuren, mit dem Eigenleben, das sie entwickeln. Dass ich stark mit den Ohren schreibe, mir Rhythmus und Klang als Inhaltsträger wichtig sind, verbindet die Lyrik mit der Prosa.