Drei Fische aus dem Teich. Springkraut. Das Pfeifen der Busfahrerin. Ein Dorf. Ein Gletscher. Das alles und noch viel mehr erliegt in Gianna Molinaris Roman dem Verschwinden. Zwischen der Enge eines Dorfs und der Weite der Arktislandschaft bewegt sich ihre Geschichte, in deren Kern das Schrumpfen und das Wachstum stehen, die Angst vor der vollständigen Auflösung und Grenzverschiebungen jeglicher Art. Im Mittelpunkt stehen die Kinder Pina und Lobo, die vor Jahren plötzlich zu wachsen aufgehört haben.
Die wenigen Dorfbewohner warten sehnsüchtig auf ihren Wachstumsschub, denn die beiden gelten als Hoffnungsträger, die dem Ort eine Zukunft sichern sollen. Doch im Dorf scheint alles dem Schrumpfen, Vergessen und Verschwinden anheimzufallen. Nur eine riesige Hecke – der einzige Tourismusmagnet – dehnt sich ins Unermessliche aus.
Expedition auf dem Forschungsschiff
Parallel zur Dorfgeschichte blendet Gianna Molinari in die Arktis. Hier ist Pinas Mutter Dora auf einem Forschungsschiff unterwegs, sammelt Sedimentproben aus dem Meeresboden und beobachtet und vermisst das Schwinden der Gletscher sowie die Veränderung der Eislandschaft:
«Eis schmilzt, und unpassierbare Stellen werden schiffbar, Land geht unter, und Land taucht auf, Menschen verdrängen Menschen, Gebiete werden mit neuem Blick geprüft, und neue Gebietsansprüche erwachen wie die tiefgefrorenen Erdhörnchen im Frühjahr, mit noch halbsteifen Gliedern, aber einem gewaltigen Hunger.»
Die 35-jährige, in Zürich lebende Basler Autorin Gianna Molinari hat sich bereits in ihrem preisgekrönten Debüt «Hier ist noch alles möglich» rund um eine Nachtwächterin in einer halbleeren Fabrik mit poetischen Bildern ihren Themen angenähert. Hinter der Poesie steckt immer auch die Gesellschaftskritik. In Metaphern eingewoben sind Gedanken zum Umgang mit der Natur, zu Besitzansprüchen und zum Ausloten von Grenzen.
Fragen zu Klimawandel und Geopolitik
«Hinter der Hecke die Welt» lässt sich auf mehreren Ebenen lesen. Surreale Elemente wechseln sich ab mit konkreten Fakten, die Gianna Molinari etwa auf ihrer Grönland-Reise auf einem Forschungsschiff recherchiert hat.
Ihre beiden Erzählstränge zwischen Dorf und Arktis, zwischen dem Lokalen und dem Globalen, verflicht sie zu einem poetischen Ganzen, bei dem vieles in der Schwebe bleibt, aber dennoch aktuelle Fragen zu Klimawandel und Geopolitik anklingen. Und über allem steht die Frage, wie der Mensch mit dem Verschwinden umgeht.
Lesungen
Do, 28.9., 19.00 Literaturhaus Basel
Fr, 29.9., 19.30 Orell Füssli Brugg AG
Do, 5.10., 19.00 Orell Füssli Wil SG
Di, 31.10., 19.00 Brunnstube
St. Alban Basel (www.literaturspur.ch)
Radio
Zwei mit Buch
Katja Schönherr spricht mit Gianna
Molinari über ihre Grönlandreise
Mo, 9.10., 18.30 / So, 15.10., 11.00
Radio SRF 2 Kultur
Buch
Gianna Molinari
Hinter der Hecke
die Welt
208 Seiten
(Aufbau 2023)
5 Fragen an Gianna Molinari
Natur und Grenzverschiebungen waren schon in Ihrem Debüt «Hier ist noch alles möglich» Themen. Wie ist es zur neuen Geschichte zwischen Dorf und Arktis gekommen?
Gianna Molinari: Ja, diese Themen interessieren mich auch im zweiten Roman. Die Arktis ist ein Ort, wo Grenzverschiebungen und unser Umgang mit Natur stark sichtbar sind. Durch uns schmilzt das Eis der Arktis rasant. Dadurch werden neue Gebiete für die Menschen zugänglich und neue staatliche Territorialinteressen wach, insbesondere, um Rohstoffe zu gewinnen. Es stellt sich dort also die Frage, wem der arktische Grund künftig gehört. Auch im Dorf verschieben sich Grenzen. Die Natur überwuchert die Dorfstrasse, holt sich den Raum zurück. Ich habe entlang dieser Motive des Schrumpfens, Verschwindens, aber eben auch des Wachsens geschrieben. Daran zeigen sich aktuelle Fragen unserer Zeit.
Hinter Ihrer bildhaften Sprache schwingt Gesellschaftspolitisches mit. Was möchten Sie mit Ihrer Literatur ansprechen?
Ich empfinde es als widersprüchlich, dass einerseits unsere westlich geprägte Gesellschaft auf Wachstum aufbaut, mit stetigem Streben nach mehr Profit, nach noch höheren Rekorden, und dass wir uns andererseits mit derselben Beharrlichkeit die eigene Lebensgrundlage abgraben. Und dass wir nicht anerkennen, dass unendliches Wachstum unmöglich ist, die Ressourcen begrenzt sind. Mich beschäftigt zudem die Frage, wem Raum gehört und wer aus welchen Gründen Besitzansprüche erhebt. Und dann ist da auch das Thema des Vermessens – von Land, aber auch von Körpern.
In Ihren Roman fliesst viel Hintergrundwissen ein, von der Entnahme von Sedimentproben in der Arktis bis zum Drüsigen Springkraut im Dorf. Welche Recherchen sind dem Buch vorausgegangen?
Das Aufsuchen konkreter Orte und das Führen von Gesprächen sind für mein Schreiben notwendig. So war auch eine Reise nach Grönland sehr inspirierend. Wir konnten Wissenschafterinnen bei der Arbeit begleiten und die Landschaft erleben. Wichtig waren auch weitere Recherchen, die ich für den Roman und für den Essayfilm «Nichts geht spurlos am Eis vorbei» mit Christoph Oeschger unternommen habe. So besuchten wir etwa ein Minenprojekt zur Gewinnung von Seltenen Erden in Südgrönland und das Zentrum für Marine Umweltwissenschaften mit seinem Lager der Meeresböden. Das ist einer der schönsten Aspekte des Schreibens, dass ich Einblicke in Berufsfelder und Wissensgebiete erhalte, zu denen ich sonst keinen Zugang hätte.
Im Buch scheinen nebst Fakten zuweilen auch surreale Elemente auf: wie die beiden Kinder, die nicht mehr wachsen, oder die Hecke, die sich stetig ausdehnt. Wann hält jeweils das Surreal-Märchenhafte Einzug in Ihre Geschichten?
Die surrealen Elemente waren für mich Möglichkeiten, die Dinge zu schärfen, in einem gewissen Sinn zu überzeichnen und sie so näher heranzuholen. Sie ermöglichen im besten Fall, dass ein anderer, neuer Blick auf die Geschehnisse geworfen werden kann.
Wie im Debüt gibts auch in diesem Buch einige Zeichnungsskizzen und Fotografien, die analog zur Geschichte vieles in der Schwebe lassen. Welche Rolle spielt das Bildhafte in Ihrem Schaffen?
Mit den Bildern kann ich – vielleicht ähnlich wie mit den surrealistischen Elementen – die Dinge aus einer anderen Perspektive betrachten. Mit dem Wechsel des Mediums, vom Schreiben zum Zeichnen, kann ich eine andere Erzählebene hineinbringen, die neue Zugänge schafft. Und hoffentlich bewirken die Bilder auch bei den Leserinnen und Lesern eine Grenzverschiebung, die den Erzählraum nochmals erweitert.