1985 konnten sie jubeln. Sagenhafte 1241 Thunfische gingen den Tonnaroti von Katria damals in ihre kunstvoll gefertigten Reusen und Netze. Zehn Jahre später waren es nur 240, 1998 noch 75. Dafür zogen die Fischer der kleinen Insel südlich von Sizilien bald anderes aus dem Meer: gekenterte Boote und Flosse mit in Seenot geratenen Flüchtlingen aus dem nahen Afrika. Verletzte, halb Verdurstete, Leichen.
Die Lektüre von «Mattanza» kann unter die Haut gehen. Germana Fabiano, 1971 in Palermo geboren und heute als Politologiedozentin in Tübingen tätig, widmet ihrer Heimat eine Art ethnografische Parabel. Die Insel Katria ist fiktiv, erinnert aber an Lampedusa oder Favignana, die als Auffangstationen afrikanischer «Boat People» traurige Schlagzeilen liefern.
Erinnernde Wehmut und aufkeimende Wut
Doch der Roman liest sich auch gänzlich anders: als eine sinnliche Geschichte aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt. «Mattanza» heisst die jahrhundertealte Methode der Thunfischerei, die den Inselbewohnern das Überleben sichert. Archaisch ist denn auch der Hauptstrang des Romans, der mit einer Erschütterung des Lebens von und mit der Natur beginnt.
Als im Dorf im Jahr 1960 der neue «Raìs» geboren wird, der durch Erbrecht bestimmte Anführer der «Mattanza», ist es – ein Mädchen. Das Dorf verstummt in Schockstarre. Ein «göttlicher Fehler»? Der amtierende Raìs bricht den Bann: «Dass der Raìs keine Frau sein darf, hat niemand gesagt.»
Mit Nora Greco, die als Teenager den Raìs ablösen wird, bricht das kleine Katria in eine Zukunft auf, die sich innert weniger Jahre grundlegend verändert. Zuerst erfolgreich und selbstbewusst, muss Nora später den Niedergang erleben: das Ausbleiben der Fische, aufkommende Touristenströme, dann die Boote, die Flüchtlinge, die Leichen. Die Autorin beschreibt die Geschichte vom Rande Europas so bildhaft wie jene alten italienischen Filme, die nicht nur nach Süden klangen, sondern auch so rochen und die lähmende Hitze in erdige Farben packten.
«Mattanza», im italienischen Original 2016 erschienen, ist ein Lesegenuss zwischen zarter Poesie und schauriger Realität – wimmelnd vor Figuren und Geschichten, getragen von erinnernder Wehmut und aufkeimender Wut.
Buch
Germana Fabiano
Mattanza
Aus dem Ital. von
Barbara Neeb und
Katharina Schmidt
192 Seiten
(Mare 2023)