«Im Himmel, ganz oben, konnte ich einige ziehende Wolken erkennen, und da begriff ich, ich hatte überlebt. So hatte mich der Krieg auch diesmal nur zur Seite geschleudert», notiert der Gefreite Veit Kolbe in seinem Tagebuch. «Als Kind der Gedanke: Wenn ich gross bin. Heute der Gedanke: Wenn ich es überlebe.»
Der 24-jährige Kolbe ist Hauptfigur in Arno Geigers neuem Roman «Unter der Drachenwand». Nach fünf Jahren im Krieg kehrt er 1944 traumatisiert und schwer verwundet von der russischen Front nach Wien zurück. Kolbe hadert über seine geraubte Jugend und versinkt in die verzweifelte Hoffnung, dass der Krieg endet, bevor er wieder eingezogen wird. Doch zu Hause findet er keinen Trost, seine Familie glaubt immer noch an den Sieg. «Ich hatte den Irrsinn der Front mit dem Irrsinn der Familie vertauscht», muss er in Wien feststellen und zieht sich an den Mondsee nahe Salzburg zurück.
Antihelden mit seelischen Verwundungen
Spätestens seit 2005 gehört Geiger zu der ersten Riege deutschsprachiger Autoren. Damals erhielt er den deutschen Buchpreis für seinen Roman «Es geht uns gut». Der 49-jährige Österreicher hat schon über seinen dementen Vater, über einen Balljungen und zuletzt über einen Studenten geschrieben, der ein Flusspferd pflegt. Seine Protagonisten sind oft Antihelden, meist erzählt der Autor von seelischen Verwundungen – auch jetzt wieder. Dieser neue Roman ist kein Frontbericht, Schützengräben kommen nur am Rande vor, dennoch ist es eine Antikriegsgeschichte.
Zehn Jahre sind vergangen zwischen der ersten Idee zum Buch und seiner Fertigstellung. Herausgekommen ist ein taumelnder Hauptprotagonist, der an Wolfgang Borcherts deutschen Kriegsheimkehrer Beckmann aus «Draussen vor der Tür» erinnert. Aus Beobachtungen, Erlebnisfetzen und Alltagstrümmern hat Geiger die unfassbare Realität von Massenmord, Leben und Liebe im Schatten des Zweiten Weltkriegs zusammengetragen.
Geiger erzählt etwa vom Wiener Juden Oskar, der alles verliert. Oder einer Mutter in Darmstadt, die von der Angst in Luftschutzkellern berichtet, und in deren Tochter sich der Gefreite Veit Kolbe während seines Fronturlaubs verliebt. Vorsichtig geht er auf die Frau mit dem Säugling zu, es kommt zu einer zarten Liebesgeschichte. Zwar bleiben die Randfiguren ein wenig blass, doch dafür beschreibt Geiger seinen Hauptcharakter detailreich. «In meinem Waschlappen, Werbegeschenk eines Geschäfts auf der Thaliastrasse, waren die Worte ‹Komm wieder› eingestickt. Ich besass den Waschlappen seit meiner Jugend», heisst es einmal.
Kein Entkommen vor dem sinnlosen Gemetzel
Für den Verwundeten wird der Genesungsurlaub zu einer Lebensschule. Er wird Ersatzvater, reift an den Bekanntschaften am Mondsee. Als ein Gärtnereibesitzer wegen seiner Kritik am Naziregime ins Gefängnis muss, hilft ihm Kolbe bei der Flucht. Schliesslich gibt es für ihn dennoch kein Entkommen vor dem sinnlosen Gemetzel. Trotz Widerstand wird Kolbe am Ende seiner Atempause wieder Tauglichkeit bescheinigt, und er muss zurück an die Front.
Buch
Arno Geiger
Unter der Drachenwand
480 Seiten
(Hanser 2018)