Die 19-jährige Aurélie stammt aus einer Arbeiterfamilie und schafft es in ihrer Heimatstadt Grenoble zu einem Jura-Studium an die Uni. Während ihres Nebenjobs als Putzfrau lernt sie den kolumbianischen Studenten Alejandro kennen, mit dem sie eine Affäre beginnt. «Keine Verantwortung, keine Verpflichtung, ein an der Logik der Mobiltelefonie-Angebote orientiertes Sexualleben»: So beschreibt die 1990 in Grenoble geborene Autorin Marion Messina in ihrem Debüt «Fehlstart» die Liebesgeschichte zwischen den beiden, die auf dem freien Markt wegen ihrer Klasse und Herkunft kaum Aufstiegschancen haben.
Alles bleibt etwas an der Oberfläche
Er will keine Beziehung, sie zieht depressiv nach Paris, wo alles noch schlimmer ist: Miesere Jobs, unbezahlbare Wohnungen. Schliesslich beginnt Aurélie eine Beziehung mit einem wesentlich älteren Mann, bei dem sie dann einziehen kann. Marion Messina erzählt von einem Frankreich, in dem die Flucht aus der eigenen Klasse nicht vorgesehen ist. Und wer den Wechsel doch wagt, muss erkennen, dass einen die arme Herkunft wie ein unangenehmer Geruch begleitet.
Das alles ist interessant, aber tatsächlich wurde es schon mehrfach und besser erzählt. Etwa von Annie Ernaux, der französischen Literaturlegende, die zahlreiche Bücher über ihr Aufwachsen in der französischen Unterschicht und ihrem Entkommen in die akademische Welt geschrieben hat. Oder von dem deutschen Journalisten Christian Baron in seinem neu erschienenen autobiografischen Debüt «Ein Mann seiner Klasse». Während Ernaux ihre Herkunft klug analysiert und Baron sie bildreich schildert, schafft es Messina nicht, ihren Figuren Tiefe zu verleihen, sondern bleibt in ihrer Wut an der Oberfläche. Etwa wenn sie Alejandro als Porno-Liebhaber mit einem «Halbsteifen» beschreibt und Aurélies Uni-Frust mit den Worten schildert: «Nach den zwei Stunden dieser ersten Vorlesung hatte sie sich wie ein frisch defloriertes Mädchen gefühlt, sie konnte es nicht fassen, dass etwas so lange Erträumtes so fade, unnütz und endlos sein konnte.» Sprachlich lässt sich Messinas Stil als minimalistisch beschreiben – oder ganz einfach nur als simpel und zu gewollt. Ein kurzes Durchatmen ist den Lesern nicht vergönnt, die Geschichte ist geprägt von Brutalität, von materieller und seelischer Not. Die Handlung bleibt vorhersehbar: In Paris trifft Aurélie durch Zufall Alejandro wieder, und als sie schwanger von ihm wird, lässt sie das Kind abtreiben und kehrt nach Grenoble zurück.
Stimme einer wütenden jungen Frau
Spannend an Messinas Text ist hingegen die Perspektive: Im Buch erklingt die Stimme einer wütenden jungen Frau. Die Autorin findet sich in diesem Generationenporträt aus weiblicher Sicht selbst wieder, wie Messina gegenüber dem kulturtipp sagt: «Der massive Porno-Konsum, Social Media und sein Diktat zu einem Wohlbefinden, die Managementideologie: All das betrifft meine Generation.» Aber nicht nur, denn die Autorin ergänzt: «Der Roman hat sein Publikum auch in einer weniger jungen Leserschaft gefunden, da sich die westliche Zivilisationskrise mit ihrem Anteil an Neurotikern und depressiven Menschen über Jahrzehnte hinzieht.»
Buch
Marion Messina
Fehlstart
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
168 Seiten
(Hanser 2020)