Am Anfang steht die Angst davor, das Ungeborene zu verlieren und entdeckt zu werden. «Lass mir das Kind», bittet die schwangere Florentine auf dem Pferdewagen. Sie hat Blutungen, aber sie schafft es ins Spital, und wenige Monate später bringt sie ihren Sohn Samuel auf die Welt. Es sind die 1970er, erst kurz zuvor ist sie mit ihrem Mann Hannes in ein Dorf im rumänischen Banat gezogen, wo er eine Stelle als evangelischer Pfarrer angetreten hat. «Es war bekannt, welche Kuh wann kalbte, wer um wen warb, wer zu Untreue neigte und wahrscheinlich auch, wann und wie oft die Dorfbewohner einander liebten», beschreibt Florentine den Ort, in dem sie sich fremd fühlt. Die Pfarrersfamilie bietet zwei Touristen aus der DDR ein Nachtlager an. Als sie bemerken, dass die beiden ein schwules Paar sind, befürchten sie, dass sie vom Geheimdienst «Securitate» vorgeladen werden könnten: Homosexualität ist in Rumänien strafbar.
«Das System lebte davon, dass jeder schuldig war»
Iris Wolffs neues Werk «Die Unschärfe der Welt» ist ein Familien- und Wenderoman auf knapp über 200 Seiten, die aber voll ausreichen, um die Geschichte in einer Tiefe auszubreiten, welche die Leser mitfühlen lässt. Die Autorin erzählt von sieben Figuren in sieben Kapiteln aus ebenso vielen Perspektiven. Deren Schicksale sind so dicht miteinander verwoben, dass sie eine konzentrierte Lektüre erfordern. «Mit dieser multiperspektivischen Erzählweise lässt sich zeigen, dass man in den Augen eines anderen Menschen immer auch jemand anderer ist», sagt Wolff im Gespräch mit dem kulturtipp.
Es geht um Verrat und Bespitzelung, um Unfreiheit, Liebe und Täuschungen über vier Generationen hinweg. Das Buch beginnt in Rumänien während der Ära des Diktators Nicolae Ceausescu und reicht bis ins Deutschland der 2000er. Wolff gelingt es meisterhaft, die verschiedenen Handlungsstränge niemals ausfasern zu lassen und den vielen Protagonisten eine individuelle Stimme zu verleihen, mit der sie vom Ende des kommunistischen Systems in Osteuropa berichten. «Angeblich ging es um eine sichere Zukunft. Um Gerechtigkeit. Dieses System lebte davon, dass jeder schuldig war. Es gab nur ein Dafür oder Dagegen», erkennt der Pfarrer Hannes nach seinem Verhör. Dem Sohn Samuel gelingt gemeinsam mit einem Freund die Flucht in den Westen.
Die alte Heimat als entschleunigter Kosmos
Der harte politische Stoff wird eingebettet in wunderbar poetische Bilder. Vor allem die Szenen aus Rumänien erzählen von einem entschleunigten Kosmos, wo Schlittenkufen über Schnee gleiten. Die Leser treten in eine Welt ein, die es nur noch in Erinnerungen gibt. Das Banat ist der Winkel der Welt, «wo der Teufel seinen Hut verloren hat», und Heidelandschaften lilafarben leuchten.
Die in Freiburg lebende Autorin wuchs auf einem Pfarrhof im Banat und in Siebenbürgen auf, bis sie 1985 mit ihrer Familie nach Deutschland kam. Der Roman basiere auf autobiografischen Quellen: «Mit einigen Figuren teile ich Erinnerungen und Wahrnehmungen. Aber die biografischen Spuren verwischen immer mehr, je weiter die Geschichte in die Gegenwart voranschreitet.»
Buch
Iris Wolff
Die Unschärfe der Welt
216 Seiten
(Klett Cotta 2020)