Ein bärtiger, alter Kauz auf einer Piazza. Neben ihm stehen ein paar Tüten. Er füttert die Tauben, spricht mit sich selbst. Wer ist er? Was für ein Leben liegt hinter ihm? In seinem Roman «Das wundersame Leben des Liborio Bonfiglio» gibt Remo Rapino solchen Aussenseitern, die man vielerorts antrifft, eine Stimme.
Wie Robert Seethaler in «Ein ganzes Leben» zeichnet der italienische Autor, der für seinen Roman mit dem Premio Campiello 2020 ausgezeichnet wurde, ein einfaches Leben nach. Sein titelgebender Held muss sich bereits als 14-Jähriger allein durchschlagen. Den Vater hat er nie gekannt, die Mutter stirbt früh. Von Lanciano aus, einer italienischen Kleinstadt in den Abruzzen und Heimat des Autors, führt ihn das Schicksal einmal quer durch Italien. Nach dem Militärdienst im Friaul schuftet er in Fabriken in Mailand und Bologna. In einer Gewerkschaft findet der verschrobene Einzelgänger erstmals ein Gefühl von Verbundenheit.
«Ein bisschen normal, ein bisschen nicht»
Ähnlich wie der unbeholfene Forrest Gump im gleichnamigen oscarprämierten Film von 1994 stolpert der gutmütige Liborio versehentlich in reale historische Ereignisse. Anhand der persönlichen Biografie seines Protagonisten beschreibt Remo Rapino wichtige gesellschaftspolitische Entwicklungen und spannt dabei einen zeitlichen Bogen von 1926 bis in die Nullerjahre.
Mit über 60 Jahren kehrt sein Pechvogel, immer verfolgt von «schwarzen Zeichen», als einsamer, mittelloser Mann zurück in die Geburtsstadt. Hier ist Liborio, von den anderen Bewohnern ignoriert oder verspottet, plötzlich der alte Sonderling, der mit Tüten bepackt und Steinen in den Jackentaschen durch den Ort streift. Ein wunderlicher Eigenbrötler, «tags und nachts immer allein», der sich für seine Einsamkeit geniert.
In sich gekehrt, blickt Liborio zurück. «Mein Leben war also irgendwie komisch, ein bisschen normal und ein bisschen nicht», so sein Fazit. Rapino erzählt die Erinnerungen seiner Romanfigur als inneren Monolog. Dafür wählt er eine seiner Hauptfigur entsprechende ungeschliffene, manchmal etwas derbe und nicht immer politisch korrekte Sprache. Das ist mal rührend, mal komisch, wenn etwa der Extremist zum «Exkremisten» wird.
Ein Roman voller liebenswerter Figuren
Durch den Verzicht auf eine korrekte Interpunktion und strukturierende Absätze greifen die Geschehnisse nahtlos ineinander über – die Zeit rast. Diese Erzählweise wirkt zunächst zwar abschreckend, doch lässt man sich darauf ein, wecken die Geschichten eine nostalgische Sehnsucht nach Italien. Gleichzeitig stellt Rapino anhand der individuellen Lebensgeschichte seines tragischen Helden, der in bitterer Armut lebt, die Kehrseite der oft romantisierten «Grande Bellezza» bloss. Beklemmende Momente wechseln sich mit lustigen, leichtfüssigen Anekdoten ab. «Das wundersame Leben des Liborio Bonfiglio» ist ein melancholischer Roman voller kleiner Erzählungen und liebenswert skurriler Figuren, realen und erfundenen, vor dem Hintergrund von Italiens bewegter Geschichte.
Buch
Remo Rapino
Das wundersame Leben des Liborio Bonfiglio
320 Seiten
(Kein & Aber 2022)