Wer einsam ist, ist mehr als nur allein. In der Schule wird der kleine Hans ausgegrenzt und verdroschen. Zu Hause ist er geduldet, mehr nicht. Doch Hans nimmt hin, «dass er die Eltern mehr liebte als sie ihn». Die Mutter – einst die Schönste auf der Welt – ist oft gereizt. Der Vater schweigt und bringt seine Hände trotz allabendlichem Schrubben nicht mehr sauber.
Da hilft nur noch die Flucht. Weil aber die weite Welt verschlossen ist, fliehen Vater und Mutter nach innen. Auf die Insel im grossen See, wohin sie eine Truhe und drei Stühle schiffen, ein paar Säcke und Kisten – und ja, halt auch den Hans.
Spielerisch Neuland erobern
Dirk Gieselmann (45), bekannt als sprachgewandter Reporter und Kolumnist, blickt mit seinem literarischen Debüt zurück in eine Kindheit, die in der jungen DDR liegen könnte. Die beschriebene Welt aber ist keine reale, sondern eine archaisch entrückte, die in eine Glaskugel passt oder in eine traurige Seele.
Und traurig ist der Hans, der oft ins Nichts starrt. Wenn die Mutter ihn fragt, was er habe, sagt er «nichts», und sie weiss genau, worin die Schwermut ihres Sohnes gründet. Dennoch ist es Hans, dem die Flucht auf die Insel neue Perspektiven eröffnet. Spielerisch erobert er sein Neuland, dessen König er ist. «Er war jetzt da, wohin er gehörte: am anderen, am richtigen Ende der Welt.» Sein Glück, das er mit dem zugelaufenen Hund Bull teilt, endet abrupt, als ihn die Behörden in die Schule zwingen, später in ein Erziehungsheim.
Als Erwachsener kehrt er auf die Insel zurück, doch sein Vater sagt: «Hier ist kein Platz für dich.» Aber Hans macht aus seinem Schicksal, das im Irgendwo und Irgendwann schwebt, eine erstaunlich stimmige Lebensgeschichte. Seine Einsamkeit erklärt er zum Sehnsuchtsort, den er mit Sinn und Schönheit auszustatten versteht.
Dies verdeutlicht Gieselmann mit einer wundersamen Sprache, die das graue Nichts der Schwermut zum Funkeln bringt. «Es war so kalt, dass selbst der Wind fror», eröffnet er die Geschichte. Hans’ gespenstische Eltern erscheinen wie «zwei Marionetten hinter dem Vorhang nach einer misslungenen Vorstellung». Und als ihm die Mutter vorwirft, er habe einmal mehr die Zeit vergessen, weiss Hans: «Es war umgekehrt gewesen: Die Zeit hatte ihn vergessen. Das unterlief ihr fast täglich.»
Ein kleiner Roman von grosser Tiefe
Dirk Gieselmann ist ein kleiner Roman von grosser Tiefe gelungen. Eine zeitlos anmutende Geschichte, deren Lektüre Grundlegendes zum Klingen bringt.