Sie sieht ihn lächeln und lächelt auch. Das ist Liebe auf den ersten Blick am Berliner Alexanderplatz. Aus der kurzen Begegnung entwickelt sich eine Amour fou, aus der sich die beiden nicht mehr befreien können. Sie heisst Katharina und ist 19 Jahre alt. Er heisst Hans, ist 53, verheiratet und Vater eines Sohns. Sie ist ein typisches Kind der DDR mit innerer Distanz zum Regime. Er war einst ein «kleiner Nazi» und ist jetzt ein Kommunist: «Das muss man sich einmal vorstellen, dass die Russen in nur zwei Jahrzehnten aus einem rückständigen Land eine Industrienation geschaffen haben.»
Mit diesen beiden Protagonisten entwickelt die deutsche Schriftstellerin Jenny Erpenbeck im neuen Roman «Kairos» ein prekäres Beziehungsdrama zwischen zwei Menschen, die nicht zusammenpassen und dennoch nicht voneinander lassen. «Kai-ros» ist der griechische Gott des flüchtigen Glücks. Er stand den beiden bei, als sie sich kurz begegneten, sich verknallten und im Bett landeten – alles am gleichen Tag, versteht sich. Doch dann verlässt das Glück die beiden.
Die Geschichte spielt in den letzten Jahren vor dem Mauerfall und endet mit der deutschen Wiedervereinigung. Es stellt sich heraus, dass Hans im Geheimen der Tätigkeit nachging, der die meisten seiner Sorte frönten: Er war ein Stasi-Spitzel.
Leiden, um glücklich zu sein
Der erste Teil des Romans geht ans Herz. Der scheinbar feinfühlige Schriftsteller Hans nimmt sich der etwas verschüchterten Katharina an. Sie hat ihren Weg im Leben noch nicht gefunden, macht eine Ausbildung als Grafikerin, wechselt später als Bühnenbildnerin ins Theater. Nach und nach entwickelt sich ein Machtgefälle zwischen den beiden. Er dominiert sie mit seinem angelernten Politstuss: «Für die Mitgliedschaft in der Nato hat Adenauer den Osten verkauft.» Sie verlässt sich auf ihre Gefühle: «Jemanden ganz erkennen – und ganz annehmen, das hat sie sich noch niemals zuvor gewünscht.»
Die junge Katharina hat einen langen Atem. Sie nimmt es hin, dass Hans an eine Trennung von seiner Frau nicht denkt. Ebenso lässt sie es geschehen, dass er sie mit einem Riemen schlägt, weil ihn das sexuell erregt. Dieses sadomasochistische Motiv durchzieht den Roman. Die beiden wollen leiden, weil sie glauben, nur so glücklich sein zu können. Die Leidenszeit beginnt, als sich Katharina kurzzeitig mit einem Schauspieler einlässt. Sie schreibt auf einen Zettel, wie er ihre Brüste küsst. Hans findet die Zeilen, und die Hölle ist los.
In der Folge quält Hans die junge Frau unerbittlich. – «Verrat», «Betrug» sind die Vorwürfe, die fallen. Die politische Verlogenheit der deutschen Nach-kriegszeit spiegelt sich in diesem Verhältnis. Die beiden sind derart fatal in ihre Beziehung verstrickt, dass sie kaum merken, wie ihr Staat zerbröselt.
«Zahnlos ist dieser Staat geworden»
«Kairos» ist streckenweise fast unerträglich zu lesen, wenn man mit dem Schicksal der beiden mitfiebert. Immer wieder blitzen die Absurditäten der Nachkriegszeit auf, die sich die jüngere Generation kaum vergegenwärtigt: «Christoph Hein hat auf dem Schriftstellerkongress die Abschaffung der Zensur gefordert, und der Staat hat ihn nicht eingesperrt. Zahnlos ist dieser Staat geworden, ein elender, alter Hund.» So ärgert sich Hans, als er nicht mehr umhinkommt, die Zeichen an der Wand doch noch zu lesen.
Buch
Jenny Erpenbeck
Kairos
379 Seiten
(Penguin 2021)