Erst als junge Frau verschwinden die Hemmungen. «Nach Jahren, in denen ich mich schämte, in ihrer Gegenwart zu gestikulieren, um verstanden zu werden, spreche ich heute ohne Stimme mit deutlichem Hervorheben der Labiallaute», schreibt Claudia Durastanti über die Gespräche mit ihrer Mutter. Sie lasse sich gar dazu hinreissen, Begriffe zu erfinden, die nichts bedeuten. Es soll offensichtlich sein, dass sie zu ihrer Mutter steht, schildert die 36-jährige Schriftstellerin in ihrem nun auf Deutsch erschienenen autobiografischen Roman «Die Fremde» ihr Heranwachsen als Tochter gehörloser Eltern: zwei Exzentriker, die sich als «tragische und besiegte, von der Welt abgewiesene Menschen» betrachten.
Mit gewählten Worten gegen die Scham
Die italienische Autorin schneidet viele Themen an: das Grosswerden in der Migration und in Armut, das immerwährende Gefühl vom Anderssein, den Wunsch nach dem sozialen Aufstieg. Je vulgärer sich die Eltern ausdrücken, desto geschliffener wird die Erzählerin in ihrer Wortwahl. Sprachlich korrekt zu sein, so erhofft sie sich, könne sie von den Eigentümlichkeiten ihres Lebens befreien. «Ich fürchtete, jemand könnte mich als das erkennen, was ich war: eine, die sich eingeschlichen hatte», schildert die Ich-Erzählerin ihre Herkunftsscham.
Wie ihre Protagonistin kam auch die Autorin in den USA zur Welt. Wie im Buch kehrte auch sie nach der Trennung der Eltern mit der Mutter in deren kleines italienisches Heimatdorf zurück. Migration muss aber nicht unweigerlich heissen, keine Wurzeln mehr zu haben. In einem Interview mit der Zeitung «La Repubblica» nennt Durastanti dieses Gefühl ein «positives Unbehagen». Sie selbst habe eine imaginäre Heimat, die sich aus mehreren Ländern zusammensetze.
Mit einer bemerkenswerten Sprachmelodie, die zwischen Nüchternheit und Prosa wechselt, mit langen Schachtelsätzen und abrupten Gedankensprüngen schreibt die Autorin über ihr zentrales Gefühl des Fremdseins. Wie lassen sich solche Emotionen ins Deutsche übertragen? «Ich musste mich nicht in Claudia Durastanti einfühlen, sondern in das erzählende Ich, ich musste keine Rücksicht auf die Gefühle der realen Person nehmen, sondern konnte mir die Romanfigur imaginieren», sagt Annette Kopetzki, die das Buch übersetzte. Aber natürlich blieb das Wissen, dass es sich trotz aller Fiktionalisierung um persönliche Erfahrungen handelt, immer im Hintergrund. «Es gibt nur sehr wenige Bücher, denen ich mich beim Übersetzen so stark verbunden gefühlt habe», sagt Kopetzki.
Geschichte einer Ausgegrenzten
Durastanti verzichtet auf eine Chronologie, ordnet die Szenen thematisch. Angelpunkte sind die Familie, aber auch Reisen und Musik. Es ist die Geschichte einer Ausgegrenzten, die sich auf den Weg macht und von der Vergangenheit freikämpft, um wieder Empathie für ihre Familie empfinden zu können. Erst durch die Distanz in London und die ersten Versuche als Schriftstellerin findet sie wieder zurück zu ihren Eltern – und verliert die Scham.
Claudia Durastanti
Die Fremde
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
304 Seiten
(Zsolnay 2021)