Sie entsprechen ganz und gar nicht den Erwartungen. Weder denen ihrer Eltern noch denen anderer. Die Protagonisten im zweiten Roman des Kanadiers David Chariandy sind «die Kinder von Dienstpersonal, ohne Zukunft».
Der Schulabbrecher und Hip-Hop-Fan Francis und sein jüngerer Bruder Michael wachsen in Scarborough auf, einem trostlosen Vorort von Toronto. Ihre Mutter, eingewandert aus Trinidad und von ihrem Mann alleingelassen, arbeitet als Putzfrau. Ein tragischer Vorfall an einem Sommertag im Jahr 1991 verändert das Leben der Familie schlagartig. Der Erzähler Michael, ein zurückhaltender Junge, schildert in Rückblenden, wie es dazu kam. Leider unterbrechen die verschiedenen Zeitebenen den Leserhythmus. Was bleibt, ist eine diffuse Sozialkritik.
Nur die harte Realität lässt sich nicht bändigen
Vor dem Hintergrund der kanadischen Hip-Hop-Szene Ende der 1980er-Jahre zeigt David Chariandy die Probleme von Heranwachsenden aus sozial benachteiligten Familien. Die Jugendlichen sind hin- und hergerissen zwischen ihren Träumen und der brutalen Realität, haben, wenn überhaupt, schlecht bezahlte Jobs und kaum Perspektiven. Soziale Segregation, Rassismus und Polizeigewalt prägen ihren Alltag.
Trotz dieser schwierigen Umstände zeichnet Chariandy die Halbwüchsigen nicht als stereotype Gangster, sondern als empfindsame, kreative junge Männer. «Ich habe die Liebe, die Träume und die Kreativität schwarzer Jugendlicher erlebt – trotz der Feindseligkeit der Gesellschaft diesen Ausgegrenzten gegenüber», schreibt der 52-Jährige, der wie seine beiden Hauptfiguren in Scarborough aufgewachsen ist, im Mail-Interview.
Einfühlsam und mit feinem Humor beschreibt er die generationsübergreifenden Geflechte von Herkunft und Heimat. Er kreiert komplexe Charaktere, die versuchen, sich von äusseren Zuschreibungen wie Klasse, ethnischer Zugehörigkeit und Sexualität zu befreien. Während Francis und sein Freund Jelly an den Plattentellern Musikstile aus verschiedenen Epochen und Ländern übereinanderlegen und mit-einander verbinden, verschmelzen sie die unterschiedlichen Aspekte ihrer Identität. Nur die harte Realität, die immer wieder mit voller Wucht über ihr Leben hereinbricht, lässt sich nicht bändigen.
Buch
David Chariandy
Francis
Aus dem Englischen von Thomas Brovot
192 Seiten
(Claassen 2021)
Fünf Fragen an David Chariandy
«Auch ich war ein uncooler Junge»
kulturtipp: Wie haben die hitzigen Debatten rund um Identitätspolitik Ihr Schreiben beeinflusst?
David Chariandy: Daran bin ich nicht interessiert. Stattdessen möchte ich wissen, wie Menschen, die durch gewisse Herausforderungen, Ungerechtigkeiten und Traumata belastet sind, es dennoch schaffen, ihr Leben zu leben. Ich möchte Kunst schaffen, welche die Komplexität und die Kreativität dieser oft ignorierten und verunglimpften Leben zum Ausdruck bringt – selbst wenn (oder gerade wenn) der Tod eindringt.
Der Umgang mit Identität ist zentrales Thema des Romans. Warum behandeln Sie Francis’ Homosexualität nur am Rande?
Der Erzähler des Romans – Michael – ist jemand, der heterosexuell zu sein scheint. Als solcher hat er keinen direkten Zugang zu queerem Leben. Gleichzeitig glaubt Michael wahrscheinlich, dass er kein Recht hat, die Schönheit und Härte des schwarzen queeren Lebens in seiner geliebten Verwandtschaft und Gemeinschaft zu ignorieren. Er findet Wege, die Realität um ihn anzuerkennen.
Welche Unterschiede gibt es zwischen der kanadischen und der US-Kultur bezüglich Umgang mit schwarzer Identität?
Kanada wurde auf der Grundlage des gewaltsamen Diebstahls und der Kolonialisierung von indigenem Land gegründet. Dennoch hat das Land über 200 Jahre lang den Mythos kultiviert, eine Nation zu sein, in der es keinen Rassismus gegen Schwarze gibt. Dabei gab es in Kanada genau wie in den USA Sklaverei, legale Rassentrennung, von Staat und Polizei ausgeübte antischwarze Gewalt. Dazu kommt ein unübersehbares Erbe bitterer antischwarzer Diskriminierung in Bildungseinrichtungen, am Arbeitsplatz und im öffentlichen Raum. Ich glaube nicht, dass irgendein Land vollkommen frei von Rassismus oder Bigotterie ist – ob gegen Schwarze oder andere.
Wie Francis und Michael sind Sie in Scarborough aufge-wachsen. Gibt es weitere autobiografische Parallelen?
Ich habe immer darauf bestanden, dass mein Roman ein fiktives Werk ist. Allerdings bin ich in Scarborough in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen. Wie Michael und Francis habe auch ich eine schwarze Mutter und einen südasiatischen Vater. Wie Michael war ich ein relativ uncooler und «weicher» Junge. Und ich beobachtete, wie andere schwarze Jungen liebevoll und sensibel sein konnten, aber manchmal eine Haltung der Härte gegen die Bedrohung annahmen, die sie jeden Tag von der Welt um sie herum spürten. Viele der Gefühle im Roman sind also autobiografisch, wenn auch nicht alle Ereignisse.
Ihr Roman wird verfilmt. Über-nehmen Sie eine kreative Rolle?
Ich komme gerade von einem Besuch am Filmset in Toronto zurück und bin begeistert vom Team, das Regisseur Clement Virgo zusammengestellt hat. Obwohl ich die kreative Kontrolle über das Projekt abgegeben habe, hat er sein Drehbuch und seine Visionen für den Film mit mir geteilt. Das gibt mir grosses Vertrauen. Ich bin ein wirklich besessener Schriftsteller. Für meinen Roman habe ich zehn Jahre lang täglich gearbeitet. Deshalb finde ich es besonders befreiend, die Kontrolle in vertrauenswürdige Hände abzugeben, jetzt, wo meine eigentliche Arbeit als Romanautor abgeschlossen ist.