Das Gruseligste an «Views» ist, dass die Handlung nicht in einer fernen Zukunft geschieht, sondern sich weitgehend schon heute so abspielen könnte. Der Berliner Autor, Spieleerfinder und Musiker Marc-Uwe Kling, der mit seinen witzig-frechen «Känguru-Chroniken» bekannt wurde, hat nun einen Krimi-Thriller vorgelegt.
Und dieser ist so dystopisch wie realistisch, dass er die Debatte um eine Regulierung der grossen Tech-Konzerne neu befeuern dürfte.
Ein Mischung aus «Tatort» und «Black Mirror»
Nachdem Polizeibeamte bei Klings kommunistischem Känguru wahrlich keine Sympathieträger waren, rückt er nun eine Polizistin in den Mittelpunkt des Buchs: Yasira Saad, die Hauptkommissarin des Bundeskriminalamts. Im Setting erinnert die Geschichte an eine Mischung aus «Tatort» und dem dystopischen Netflix-Hit «Black Mirror».
Yasiras Kollege Michael ist verfressen und ungelenk, aber nett. Ihr cholerischer Chef denkt nur an die Aussenwirkung und seine Karriere. Zwischen den Ermittlungen versucht Yasira mit ihrer Tochter klarzukommen und schleppt sich durch monotone Tinder-Dates.
Dann bekommt sie einen Fall zugeteilt, der es in sich hat: Ein Video, auf dem drei schwarze Männer ein vermisstes Teenagermädchen vergewaltigen, geistert durchs Netz. Die Quelle ist unbekannt. Kurz darauf folgt ein Video des «aktiven Heimatschutzes», der Jagd auf die Täter machen will.
Yasira und ihr Team versuchen, den Fall aufzuklären, befragen systematisch das Umfeld des vermissten Mädchens, übewachen rechte Netzwerke und beginnen an der Echtheit der Videos zu zweifeln. Doch trotz Nachtschichten ist das Internet den Behörden immer einen Schritt voraus.
Der «aktive Heimatschutz» bekommt Zustimmung in rechten Telegram-Chats, es gibt Nachahmer, Gegendemonstrationen, erste Tote, und schliesslich wird versucht, den Reichstag zu stürmen.
«Nicht die hellste Fackel auf dem Marsch»
Kling erzählt packend – das Buch wegzulegen, fällt schwer. Der Autor lockert die Spannung immer wieder durch humorvolle Einschübe auf, was der Sogwirkung des Texts aber keinen Abbruch tut.
Nachdem der Nazi-Nachahmertäter gefasst und in seiner Garage ein unschuldiges Todesopfer gefunden wurde, denkt Yasira etwa, dass der Täter «nicht die hellste Kerze auf der Torte oder – wenn man beim Thema bleiben will – nicht die hellste Fackel auf dem Marsch ist.» Nach solchen lockeren Zwischenbemerkungen geht es sofort brutal-nüchtern weiter.
Im Vergleich mit seinen anderen Büchern zeigt sich Kling in «Views» von seiner ernsteren Seite. Gut so! Denn das Thema ist hochaktuell und drängt. Der Autor zeigt eindrücklich und erbarmungslos auf, wie leicht sich eine gespaltene Gesellschaft aufhetzen lässt.
Und was passieren kann, wenn Fakes nicht mehr von echten Nachrichten unterschieden werden können und sich einfach das Bild durchsetzt, das die meisten «Views» (oder Klicks) generiert.
Das Buch warnt, den Schutz der Demokratie vor künstlicher Intelligenz, Social Media und rechtsextremen Gruppierungen nicht zu versäumen. Man möchte es politischen Entscheidungsträgern aufs Kopfkissen legen.
Buch
Marc-Uwe Kling
Views
269 Seiten
(Ullstein 2024)