«Ein Schrei ertönt, verkümmert zu einem Wimmern, erklingt erneut. Dauert diesmal an. Schwillt an wie eine Lawine, lässt dich an die Wand zurückweichen, in tiefste Dunkelheit. Stammt er von einer Frau, einem Mann, einem Menschen oder einem viel unschuldigeren Wesen?» In ihrem Buch «Das Haus aus Stein» umkreist die türkische Autorin Asli Erdogan die seelischen und körperlichen Verwüstungen, die ein Staat im Leben seiner Bürger anrichten kann.
Ein Sturm von metaphorischen Bildern
Mit dem «Haus aus Stein» ist das berüchtigte Istanbuler Folterzentrum Sansaryan Han gemeint, wo Erdogan Anfang der 80er Gefangene besuchte. Die Autorin beschreibt das Innere der Anstalt als ein «Universum aus Granit». Die Figuren in jenem steinernen Bau werden nur skizziert, die einzige Person, die halbwegs Umrisse bekommt, wird «A.» genannt. Es ist ein Ausgestossener, eine «fortgewischte» Existenz. Erdogans Buch ist die poetische Antwort auf Schmerz und Unrecht, die Geschichte lebt von Gegensätzen. Es gibt besagten «A.», es gibt einen Chor der jugendlichen Toten, und es gibt einen Engel, der ums Leben kommt. Auf seinem Körper Spuren von Misshandlungen.
Der Verlag wirbt für das Buch als Roman, doch liest es sich in weiten Teilen wie ein Prosagedicht ohne einen richtigen Anfang oder ein Ende. Es ist ein Sturm von metaphorischen Bildern, Augen gleichen «geleerten Aschenbechern», «die Milchstrasse zeichnet das Gesicht des Todes an den Himmel». Es gebe in diesem Roman keine Helden, «sondern nur Charaktere, denen es miserabel geht», erklärt die Autorin im Gespräch. Tatsächlich ist der Text ein Verzweiflungsschrei und ein Bewältigungsversuch zugleich. Das Buch erschien 2009 und liegt erstmals in deutscher Übersetzung vor, ergänzt mit einem Essay von Asli Erdogan.
Zwischen dieser Erstveröffentlichung und der Gegenwart liegt die Erfahrung ihrer eigenen Haft. Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 wurde Erdogan verhaftet. Zum Verhängnis wurde ihr eine Kolumne in einer prokurdischen Zeitung. Den in der Übersetzung vorangestellten Essay habe sie nur mit einem inneren Widerstand schreiben können, das Trauma der eigenen Haft sei noch zu gross, sagt sie. 132 Tage sass sie im Gefängnis, bevor sie unter internationalem Druck herauskam. Auch der Zürcher Stadtrat setzte sich für sie ein, sie war 2011/12 als Writer in Residence zu Gast in der Limmatstadt, ihre Bücher wurden im Zürcher Unionsverlag veröffentlicht. Seit September 2017 lebt sie mit Hilfe eines Stipendiums in Frankfurt am Main.
Die intellektuelle Pazifistin
Das Verfahren in der Türkei gegen sie läuft noch, die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft. Mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hat sie nur den Nachnamen gemein. Er, der Herrscher, der Wahlen nicht anerkennt, wenn ihm das Ergebnis missfällt – und sie, die intellektuelle Pazifistin, die auf der Flucht vor ihm ist.
So liest sich der Roman heute wie eine dunkle Prophezeiung. «Was ich schreibe, passiert mir selbst oft», sagt die 52-jährige Schriftstellerin. «Ich wusste, dass ich irgendwann ins Gefängnis muss.» Mit poetischer Sprache macht sie das Unfassbare fassbar – ein beeindruckender und klassischer Erdogan-Schmerzenstext: «Wer kommt schon mit dem Leben davon, wenn er dem Menschen in die Hände fällt.»
Buch
Asli Erdogan
Das Haus aus Stein
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
128 Seiten
(Penguin 2019)