Das Gefühl, keine Luft zu kriegen, hat Julia bereits in ihrer Kindheit begleitet, aufgewachsen «im Schatten dieses Berges» in der Salzburger Region Innergebirg. Mit Ende 30, als sie längst aus den beengenden Verhältnissen in die Stadt geflüchtet ist, spürt sie die Atemnot erneut. Jahrelang hat sie als Pflegerin im Krankenhaus gearbeitet und versucht, den Patienten trotz den immer knapperen Zeitfenstern Mitgefühl und ein offenes Ohr zu schenken.
Nun ist ihr nach zwölf Stunden Dienst ohne Pause ein gravierender Fehler unterlaufen – und sie erhält die Kündigung. Mit Galgenhumor hält sie gleich zu Anfang fest: «Wenigstens eines habe ich gelernt: die vollständige Atmung. Immer mehr aus als ein. Ziemlich einfach zu merken: immer mehr geben als nehmen.»
Bleiben oder wieder gehen?
Ausgebrannt und von asthmatischen Anfällen geplagt, kehrt sie zurück in das Dorf ihrer Kindheit. Trost ist von niemandem zu erwarten: Der hypochondrische Vater wurde von der Mutter, die sich ihr Leben lang für die Familie aufgeopfert hatte, verlassen und erhofft sich nun von der Tochter Zuspruch. Und der Bruder vegetiert im Pflegeheim vor sich hin. Dazu soll sich Julia auch noch um eine Ziege kümmern, die mit ihren unerklärlichen Meckeranfällen die Nachbarn zur Weissglut treibt … Die Bachmann-Preisträgerin Birgit Birnbacher siedelt ihren neuen Roman «Wovon wir leben» im Ort an, in dem sie selbst aufgewachsen ist.
Sie erzählt aus Sicht der Ich-Erzählerin Julia von einem Dorf, in dem Arbeitslosigkeit und Alkoholismus Hand in Hand gehen. Durch die Perspektive des fremden Städters Oskar, der hier nach einem Herzinfarkt Ruhe sucht, wird aber auch die lieblichere Seite des Orts am See sichtbar.
Julia und Oskar sind zwei Versehrte auf der Suche nach einem neuen Leben. Zwischen ihnen entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte, der Julia aber nicht so ganz traut: «Immer will er mit allem ein Wir sein, während ich einfach nur ich werden mag.» Zu lange hat sie, wie ihre Mutter, die Bedürfnisse anderer vor ihre eigenen gestellt.
Und immer noch ist sie im Zwiespalt zwischen Pflichtgefühl und Freiheitsdrang, zwischen Verantwortung für ihren Vater und ihren Bruder und Autonomie. Bleiben oder wieder gehen und einen Neuanfang als Zeichnerin in einer Baufirma wagen? Die Liebe zu Oskar, der in ihrem Dorf einiges bewirken will, macht ihr die Entscheidung nicht einfacher.
Mit der Befreiung fällt auch das Atmen leichter
Birgit Birnbacher findet für ihre Geschichte eine poetische, aber ganz und gar unsentimentale Sprache. Die Salzburger Autorin und Soziologin, die selbst in Gemeinwesen und Quartierarbeit tätig war, wirft einen genauen Blick auf gesellschaftliche Missstände und patriarchale Strukturen. Und darauf, was ausbeuterische Arbeitsverhältnisse oder lange Arbeitslosigkeit mit den Menschen machen kann – bis ihnen die Luft wegbleibt.
Die Atmung ist ein wiederkehrendes Motiv im Roman, das Julias Seelenzustand widerspiegelt. Mit zunehmender Befreiung fällt auch das Atmen leichter. Der Schluss, den Birnbacher für ihren packenden Roman wählt, überrascht dann allerdings – so wie das Leben, in dem Glück und Desillusionierung nahe beieinanderliegen.
Buch
Birgit Birnbacher - Wovon wir leben
192 Seiten (Zsolnay 2023)