Eine unerschrockene Europäerin sucht in Südamerika das Exotische, ist überwältigt und verängstigt. «Hatte man den Urwald betreten, erfreute er einen mit seiner Pracht, doch je länger man sich in ihm aufhielt, desto bedrohlicher wurde er.» Diese Erfahrung machte die gebürtige Deutsche Maria Sibylla Merian, als sie im Jahr 1700 in der damaligen holländischen Kolonie Surinam den Dschungel erkundete. Die Naturforscherin wollte in dieser exotischen Welt am nordöstlichen Rand Lateinamerikas Pflanzen und Tiere kennenlernen. Sie war zu jener Zeit eine anerkannte Zeichnerin, die sich mit akkuraten Darstellungen von Pflanzen und Insekten einen Namen gemacht hatte.
Die deutsche Autorin Ruth Kornberger hat dieser Künstlerin mit der fiktionalen Biografie «Frau Merian und die Wunder der Welt» ein kleines Denkmal gesetzt. Maria Sibylla Merian (1647–1717) wuchs in einer Künstlerfamilie in Frankfurt auf und lebte später mit ihrem Mann in Nürnberg. Sie verliess ihn im Alter von 38 Jahren mit ihren beiden Töchtern, um sich der pietistischen Labadisten-Sekte in Holland anzuschliessen. Dort konnte sie sich zwar ihren Studien hingeben, sagte sich jedoch von den Frommen los. Sie zog mit ihren Töchtern nach Amsterdam, um sich eine eigene Existenz aufzubauen.
Übersiedlung nach Surinam
In der damaligen Kunstmetropole vermochte sie sich mit ihren Werken durchzusetzen. Sie durchschaute die frühkapitalistischen Mechanismen eines wachsenden Markts: Die Qualität der Kunst allein genügte nicht. Die Werke mussten den Kunden auch Prestige verschaffen – etwa als Zeugnisse unbekannter Kontinente.
1699 verkaufte Maria Sibylla Merian all ihre Güter und reiste mit der jüngeren Tochter nach Surinam. Als sie an Malaria erkrankte, musste sie in die Niederlande zurückkehren, wo sie später hochgeachtet verstarb. Merian war zumindest in der Sichtweise der Autorin vom niederländischen Kolonialismus enttäuscht: «Wenn ich ein Buch über die surinamischen Tiere mache, werde ich kritische Sätze über die Plantagenbesitzer einflechten, davon wird mich niemand abhalten können», schrieb sie ihrer älteren Tochter.
Soweit die Fakten eines ungewöhnlichen Lebens, das sich heute nur bruchstückhaft rekonstruieren lässt. Besonders Merians Privatleben bleibt undurchsichtig. Laut Kornberger musste sie es in ihren schriftlichen Unterlagen verheimlichen, um den guten Ruf zu schützen.
Eine selbstbewusste moderne Frau
Die Biografin füllt diese Leerstellen mit einer fiktiven, streckenweise etwas gar süsslichen Liebesgeschichte, die sie Merian unterstellt. Diese verguckte sich demnach in den geheimnisvollen Jan de Jong, der so schnell aufzutauchen pflegte, wie er wieder verschwand. Er war ein Freibeuter zur See und musste stets damit rechnen, an einem Galgen zu baumeln.
Trefflich sind dagegen die Passagen in der Erlebten Rede, welche die Gedankenwelt der Forscherin widerspiegeln: «Es war an der Zeit, sich zu loben. Siehatte Dinge gewagt, die kaum eine andere Frau getan hatte …» Dieses Selbstbewusstsein tritt immer wieder zutage und mutet modern an. Das Buch lohnt die Lektüre. Es vermittelt eine historisch nachvollziehbare Biografie einer aussergewöhnlichen Frau, deren Kunst bis heute wertvoll geblieben ist.
Buch
Ruth Kornberger
Frau Merian und die Wunder der Welt
527 Seiten
(C. Bertelsmann 2021)