Die Töpferwerkstatt im fremden, kalten England wird für die indische Stipendiatin Sara zum «sicheren Hafen» und Heimatersatz: «Ton fühlt sich überall gleich an, und diese Höhle mit ihren Werkzeugen und Brennöfen ist wie ein an einen fernen Ort transportierter Teil meiner Kindheit.» An der Töpferscheibe schweift sie ab in Erinnerungen an ihre Schulzeit am Rand einer Stadt in Südindien, als sie und ihre Schwester Tia vom Töpfer Elango auf der Rikschafahrt zur Schule mit fantastischen Geschichten versorgt wurden. Von Elango wird Sara später auch das Töpferhandwerk lernen und ihm bei seinem grossen Kunstwerk beistehen – einem riesigen Terrakottapferd, das ihm im Traum erschienen ist.
Jeder Tag kann einem um die Ohren fliegen
Die preisgekrönte Schriftstellerin Anuradha Roy, die in einer Stadt im indischen Himalaya lebt, lässt ihren Roman «Ton für die Götter» im Indien Ende der 70er- und Anfang der 80erJahre spielen. Ganz nebenbei erzählt sie dabei auch von religiösen Konflikten, Armut und einer gespaltenen Gesellschaft, in der einem «jeder neue Tag ohne Vorwarnung um die Ohren fliegen und alles zerstören kann», wie es Sara ausdrückt.
Nebst der Ich-Perspektive von Sara nimmt Anuradha Roy, selbst eine leidenschaftliche Töpferin, in auktorialer Erzählweise Elangos Sicht ein: Der Hindu verliebt sich auf dem Markt Hals über Kopf in die Muslimin Zohra – für sie will er das kunstvolle Terrakottapferd aus seinem Traum erschaffen und ihr damit seine Liebe beweisen.
Eine Liebe allerdings, die ein Tabu ist und von religiösen Fanatikern nicht toleriert wird, was Elango und Zohra schmerzvoll erfahren müssen. Der Dritte im Bunde, auf den die Autorin ihren Fokus legt, ist ein junger, schwarz-braun gescheckter Hund, der seine Leute bei einem brutalen Überfall verliert.
Er wird von Elango liebevoll aufgenommen, Chinna genannt und von Sara und ihrer Familie heiss geliebt. Doch auch der Vierbeiner wird, wie seine menschlichen Freunde, im Lauf der Geschichte weitere Verluste erfahren… In den Roman eingestreut sind Briefe von Chinnas früherer Besitzerin, die nach dem Überfall nur schwer ins Leben zurückfindet und immer noch auf der Suche nach ihrem Hund ist.
Empathisch und mit poetischer Kraft
Trauma und Verlust sind wiederkehrende Motive im Roman, in dem aber auch wärmende Momente der Menschlichkeit und die Hoffnung mehrfach aufscheinen. Roy erzählt ohne zu werten, stets empathisch und mit poetischer Kraft, gerade wenn sie die Schöpfungen aus Ton beschreibt, die aus der Hand von Elango, Sara und ihrer malaysischen Freundin Karin entstehen. Und obwohl die Ereignisse vor rund 40 Jahren spielen, lassen sich klare Parallelen zu heutigen Gesellschafts- und Religionskonflikten ziehen.
Anuradha Roy
Ton für die Götter
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
288 Seiten (Luchterhand 2023)