Antike Statuen, die plötzlich sprechen. Ein kopfloser Geist, der auf einem alten Landgut gewissenlose Faschisten in den Wahnsinn treibt. Und mitten drin eine Schweizerin auf der Suche nach dem Mörder ihrer Mutter und den eigenen italienischen Wurzeln. In ihrem zweiten Roman erzählt Michelle Steinbeck in surrealen Bildern eine verworrene und generationenübergreifende Familiengeschichte, die lustvoll literarische Grenzen sprengt.
Am Telefon erfährt Fila von einer Ärztin in Neapel, dass ihre alkoholkranke Mutter Magdalena, von der sie sich entfremdet hat, umgebracht worden sei. Daraufhin macht sie sich, aufgewachsen bei der Grossmutter in der Schweiz, auf den Weg in den Süden. In Italien spürt Fila ein «verstörendes Heimatgefühl», eine seltsame Mischung aus Vertrautheit und Fremde.
Furchtlose Figuren am Rande der Gesellschaft
Was als verzweifelte Suche nach der eigenen Herkunft und Identität beginnt, entwickelt sich zu einem bizarren Rachefeldzug. Wie in einem Fiebertraum lösen sich Filas Zeitgefühl und Orientierung allmählich auf.
Die Schweizer Autorin, deren Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» sowohl für den Schweizer als auch den Deutschen Buchpreis 2016 nominiert war, zeichnet liebenswert skurrile und furchtlose Figuren am Rande der Gesellschaft – ähnlich wie im ebenfalls unkonventionell erzählten Film «La Chimera» von der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher. Einige der zunächst fantastisch erschei nenden Erlebnisse basieren auf wahren Geschehnissen und spie len an realen Orten.
Dazu zählt eine ehemalige Salamifabrik, die im Buch von Sexarbeiterinnen als feministische Revolutionszentrale genutzt wird. Das seit 2009 von einer selbstorganisierten Gemeinschaft ausserhalb Roms besetzte Gebäude gibt es wirklich, bekannt unter dem Namen Metropoliz. Im Kern des Romans wird zu dem ein historischer Femizid von 1947 aufgearbeitet. Mitten in die Handlung eingestreute Zeitungsberichte über den Tod einer Bäuerin legen die sexistische Berichterstattung von damals offen.
Ein brisantes Thema und aberwitzige Momente
Dabei hebt Michelle Steinbeck geschickt die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Opfer zum Täter hervor. Es geht um die vielfältigen Formen der Gewalt gegen Frauen, häusliche ebenso wie institutionalisierte. Das bittere Fazit dieses Romans: Der gesellschaftliche Umgang mit geschlechtsbezogener Gewalt gegen Frauen und weiblich gelesene Personen hat sich – wie stereotype Geschlechterrollen und Misogynie – bis heute kaum verändert.
Das brisante Thema geht Michelle Steinbeck mit überraschend ungewöhnlichen Ideen an, viele aberwitzige Momente blitzen auf. «Favorita» ist ein eigenwilliger Roman, dessen Konzept dank seinem dramatischen Spannungsbogen und dem lesbaren, im Vergleich zum Debütroman zugänglicheren Stil aufgeht.
Michelle Steinbeck
Favorita
464 Seiten
(Park x Ullstein 2024)