Am Anfang hatte Gianna Molinari ein Sammelsurium an Textmaterial, eine Fülle an Motiven: Ein Wolf. Eine Bankräuberin. Eine halb leere Verpackungsfabrik, mit Zäunen abgesichert. Inseln aller Art. Ein Mann, der vom Himmel fiel. All diese Motive hat die Autorin zu einem Roman verdichtet, der sich mit Grenzen und Fremdsein genauso befasst wie mit Identitätsfragen. Und auch wenn vieles in der Schwebe bleibt, ist daraus ein stimmiges Werk entstanden.
Der Wolf als unsichtbare Bedrohung
Von der Ich-Erzählerin erfahren die Leser nur so viel: Die junge Frau wurde als Nachtwächterin in einer Fabrik engagiert, die kurz vor der Aufgabe steht. Sie richtet sich häuslich in einem leer stehenden Raum auf dem Fabrikgelände ein, schliesst lose Freundschaften mit den wenigen verbliebenen Arbeitern.
Ansonsten scheint sie kein soziales Umfeld zu haben. Angeblich treibt sich ein Wolf auf dem Gelände herum – er bleibt aber eine unsichtbare Bedrohung. In den langen und einsamen Nachtstunden, beim Blick auf den Überwachungs-Monitor oder beim Schaufeln einer Fallgrube für den Wolf verschiebt sich die Wahrnehmung der Ich-Erzählerin allmählich. Auch wenn sie mit Skizzen oder Lexikon-Einträgen versucht, die Realität einzufangen, verwischt diese immer mehr. Was blosse Illusion ist, bleibt dabei auch für die Leser offen.
«Ich bin von diesem leeren, unbeschriebenen Raum der Fabrik ausgegangen – mich interessieren Unorte», sagt die Schriftstellerin bei einem Treffen in ihrem Wohnort Zürich. «Beim Schreiben gehe ich nicht einem Plot von A nach B, sondern den Motiven nach.» Den zahlreichen Themen eine Struktur zu geben, sei die grosse Herausforderung gewesen. Auch wenn das verbindende Element immer klar war: «Alles hat mit Grenzen zu tun, mit der Frage, wo man leben will – und wer bestimmt, wo man leben darf.» So wie der Wolf, den die Menschen nicht dulden. Oder wie der Mann, der vom Himmel fiel.
Mit der Schreibmaschine schreibt sie für Geflohene
Hier stützt sich die Autorin auf wahre Geschehnisse im Jahr 2010: die Medien berichteten damals von einem dunkelhäutigen Mann, der, nur mit Jeans und einem T-Shirt bekleidet, vermutlich aus seinem Versteck im Fahrwerk eines Flugzeugs gefallen war – seine Identität wurde nie geklärt. Eine Geschichte, die Gianna Molinari nicht mehr los liess. Daraus entstanden ist ein Text, mit dem sie 2017 am Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt den 3sat-Preis erhielt und der nun auch im Roman verarbeitet wird.
Die 30-jährige Autorin, die das Liceo Artistico und das Literaturinstitut in Biel besuchte, beschäftigt sie auch in ihrem Alltag mit dem Flüchtlingsthema. Zusammen mit anderen Schreibenden hat sie das Projekt «Literatur für das, was passiert» lanciert: Zu verschiedenen Anlässen schreiben sie auf der Schreibmaschine Texte auf Wunsch. Der Erlös geht an Organisationen für Menschen auf der Flucht. Das Schreiben frisch von der Leber weg empfindet Molinari, die sonst viel Wert auf Präzision und Rhythmus legt, als befreiend.
Sechs Jahre lang hat sie an ihrem Debütwerk gefeilt und daneben als Programmassistentin an den Solothurner Literaturtagen gearbeitet. Der «Brotjob» macht ihr Spass und lässt sie immer wieder auf Distanz zu ihrem eigenen Text gehen. Sie will sich im Schreibprozess Zeit nehmen – um zu beobachten, in Gedanken zu verweilen, die Wahrnehmung zu schärfen oder für Recherchen: So hat sie eine Verpackungsfabrik besucht oder mit dem Pfarrer geredet, der die Trauerrede für den unbekannten Mann hielt.
Ihr Buch reichert sie mit Fotos, Skizzen, Zeitungsausschnitten, mit Listen oder Lexikoneinträgen an und eröffnet so eine neue Ebene, bringt andere Perspektiven und Stilmittel ein: «Das sind wiederum Möglichkeiten für die Ich-Erzählerin, ihr Blickfeld zu weiten», sagt sie.
Ein offener Blick auf die Protagonistin
Mit ihrer Literatur unterscheidet sich die Schriftstellerin stark von vielen anderen Autoren ihrer Generation, die oft auf die Innerlichkeit der Protagonisten setzen. Molinari will hingegen nicht psychologisieren, sondern den Blick auf ihre Figuren offenlassen. Schliesslich geht es in ihrem Buch auch um die Frage, welche Bilder wir uns von anderen machen, welche Eigenschaften wir anderen zuschreiben. Wie etwa beim Wolf, der allein schon durch seine Rolle in den Märchen als böse betrachtet wird. «Mit der Ich-Erzählerin kann man sich nicht sofort identifizieren», sagt Molinari. «Ich habe mich beim Schreiben zwar gefragt, ob eine Figur, von der man fast nichts erfährt, die Leser mitziehen kann – aber ich fand es spannend, das auszuprobieren.» Das Experiment ist in vielerlei Hinsicht gelungen. Angelehnt an ihren Buchtitel zeigt die Autorin, was alles möglich ist in der Literatur.
Lesungen
Gianna Molinari
So, 9.9., 19.00 Galerie Billing Baar ZGMo, 10.9., 19.00
Haupt Buchhandlung Bern
Literatur für das, was passiert
Sa, 8.9., 18.00 Merkurstr. 6 Dach Migros Provisorium Zürich
Sa, 22.9., ab 18.00 sogar Theater Zürich
Buch
Gianna Molinari
Hier ist noch alles möglich
192 Seiten
(aufbau 2018)