Die US-amerikanische Feministin Chelsea Conaboy hält Muttergefühle für einen Mythos. Die Männer hätten sie einzig zur Unterdrückung der Frau erfunden, wie sie kürzlich in einem Aufsatz in der «New York Times» schrieb. Diese Behauptung illustriert der neue Roman «Lektionen » von Ian McEwan trefflich, auch wenn die Autorin sie nicht darauf gemünzt hatte. In seinem Werk verlässt die ambitionierte Jungautorin Alissa ihren Mann Roland und das gemeinsame Baby in London, um in Deutschland eine grosse Schriftstellerin zu werden: «Aber Mttrschft wäre mein Ende gewesen. Und wir haben schon über ein 2tes geredet! Besser jetzt Schmerz, als später ewig Schmerz/Chaos/ Verbitterung», schreibt sie auf einer Ansichtskarte, ohne sich die Mühe zu nehmen, das verpönte Wort korrekt zu buchstabieren. Mutterschaft ist ihr offenbar fremd. Eine Haltung, die verbreiteter ist, als man denken könnte, wie sich im Lauf der Lektüre von «Lektionen» herausstellt.
Am Anfang steht ein Missbrauch
Ian McEwan hat mit diesem Roman ein opulentes Werk geschrieben. Er steigt mit einer Missbrauchsgeschichte ein. Der pubertierende Roland Baines wird in einem ländlichen Internat das sexuelle Opfer seiner Klavierlehrerin, die ihn monatelang missbraucht. Baines leidet ein Leben lang unter diesen Vorfällen. McEwan beschreibt Baines’ Gefühle ambivalent: «Er war verliebt, und er wurde von einer schönen Frau geliebt, die ihm zeigte, wie man liebte, wie er sie berühren sollte, ihre Erregung langsam steigern konnte. Sie überschüttete ihn mit Lob …»
Hadern mit einem formlosen Leben
Jahre nach diesem Trauma lernt Baines die Deutsche Alissa, seine grosse Liebe, kennen. McEwan siedelt deren Familie väterlicherseits im weiteren Umkreis des antinationalistischen Widerstandszirkels der Münchner Geschwister Scholl an. Solche zeitgeschichtlichen Bezüge durch- ziehen den ganzen Roman – von der Suezkrise über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und den Mauerfall bis hin zum Brexit, den McEwan engagiert bekämpft hatte, zuletzt mit seiner Novelle «Die Kakerlake ». Das fiktive Leben von Roland Baines ist der rote Faden in «Lektionen». Er steht beispielhaft für eine Generation von Männern, denen das Leben in den Nachkriegsjahren trotz den politischen Verwerfungen nahezu alles bot. Sie mussten sich einzig für ihren eigenen Weg entscheiden, doch genau darunter leidet Antiheld Baines. Denn er kann vieles ein bisschen, aber nichts richtig: So schlägt er sich als gelangweilter Tennislehrer durch, dichtet etwas, verkauft einem Kartenverlag Knittel- verse und gärtnert nebenher. Schlussendlich landet er als Klavierspieler im Teesalon eines Hotels: «Er dachte, dass alles in seinem Leben – mal abgesehen davon, dass er ein Kind grossgezogen hatte – formlos gewesen und geblieben war, und er hatte keine Ahnung, wie er das ändern sollte. Erreicht hatte er nichts.» Ausser eben die Freude an seinem Sohn, den er allein aufzieht und mit dem er ein inniges Verhältnis pflegt. So steht er ihm bei, als dieser auf einer Interrailreise durch Europa seine Mutter Alissa in Deutschland besucht und schnöde abgewiesen wird mit der Begründung: «Jetzt ist es zu spät.»
McEwan bleibt sich treu und wagt doch Neues
Wie so oft in Romanen von Ian McEwan kommen Beziehungen zwischen den Menschen zwar zu einem Ende, wirklich abgeschlossen sind sie damit aber nicht. Protagonist Baines stellt nach vier Jahrzehnten seine übergriffi ge Klavierlehrerin zur Rede. Diese zeigt nur leise Reue und setzt lieber auf das Lehrerin-und- Schüler-Verhältnis der Vergangenheit: «Ich weiss, dass Sie kein Profi geworden sind, kein Konzertpianist. Aber das hat nicht sein sollen, konnte wohl auch nicht sein. Jedenfalls bedaure ich sehr, dass ich Ihnen diesen Weg versperrt habe und dass die Musikwelt Sie nicht erleben durfte.» Schade für die Musikwelt, Pech für Baines. Überraschender erweist sich das Wiedersehen zwischen Baines und Alissa, als er sie in ihrem Eigenheim bei München besucht. Um die Lektüre nicht zu verderben, sei der Ausgang dieser Begegnung verschwiegen. Aber er belegt, dass wahre Liebe etliches ertragen kann. Mehr noch: Baines hat in den Jahren gemerkt, dass Alissa keineswegs die einzige Mutter ist, die auf ihr Kind verzichtete. Wie in ganz Europa wurden im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach auch in Grossbritannien Hunderte von Neugebore- nen zur Adoption freigegeben. Grund dafür war: Die Frauen liessen sich auf einen neuen Partner ein, während ihre Männer an der Front kämpften. Das galt damals als moralisch höchst verwerflich und setzte diese Mütter einem enormen Druck aus, sodass sie aussereheliche Kinder zur Adoption freigaben. Im Einzelfall selbst in Baines’ eigener Familie, als plötzlich ein Bruder auftaucht, von dem er niemals gehört hatte. McEwan ist sich mit diesem Roman treu geblieben, hat aber doch Neues gewagt. So entschied er sich mit über 700 Seiten für ein Format epischer Länge und baute mehr zwischenmenschliche Dramen denn je in die Handlung ein. Auch hat er die vertrauten Kulissen von England und Frankreich verlassen, um sich Deutschland zuzuwenden.
Ehrliches Bemühen um gerechte Einschätzung
Wie bei vielen Autoren der älteren Generation spielen auch bei McEwan der Zweite Weltkrieg und die DDR noch immer eine wichtige Rolle. Dabei ist McEwans ehrliches Bemühen um eine gerechte Einschätzung der historischen Ereignisse stets spürbar. Wichtiger aber ist für ihn, wie die Menschen in der Zeitgeschichte zurechtkommen – allen voran sein liebenswürdiger Antiheld Roland Baines.
Ian McEwan
Lektionen
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
720 Seiten (Diogenes 2022)