Es gibt eine Zeit, da fühlen sie sich unbesiegbar. Sie sind Nachbarskinder: die kühne, freiheitsliebende Dina, die fröhliche Nene, die einzelgängerische Ira, die ein schwieriges Geheimnis hütet. Und Keto, die in den Wirren ihres Lebens Ruhe und Geborgenheit sucht. Durch Ketos Mund erzählt Nino Haratischwili in ihrem Roman «Das mangelnde Licht» die Geschichte ihrer Freundschaft Jahrzehnte später.
Die vier leben in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, und träumen von einer aufregend schönen Zukunft. Doch ihre Welt bröckelt in diesem Perestroika-Jahr 1987 schon, sie merken es nur nicht. Wie ein Kartenhaus wird Georgien zusammenbrechen, mit Unabhängigkeit und russischem Einmarsch, mit Bürgerkrieg und Militärputsch, mit massenhaftem Aufbegehren und der Herrschaft krimineller Banden. Und mit einer Armee, die ihre Soldaten bedenkenlos ins Feuer schickt. Zehntausende werden sterben, Hunderttausende flüchten, die Parallelen zum Krieg in der Ukraine sind unübersehbar.
Quer durch die sozialen Schichten
Zu den körperlichen Wunden werden seelische Narben kommen – auch bei den Freundinnen, deren Schicksalen Nino Haratischwili mit nicht nachlassendem Elan und grosser sprachlicher Meisterschaft auf mehr als 800 Seiten folgt. Auch wenn sie da und dort sparsamer in ihren Mitteln sein könnte: Einzelne Szenen brennen sich nicht nur den Protagonistinnen ein, sondern auch den Leserinnen und Lesern. Zum Beispiel, wie Keto und Dina einer Grossdemonstration samt anschliessender Schiesserei zwar in den Zoo entkommen können, dort aber auf zwei mordlustige junge Männer treffen, die gerade dabei sind, ihrem ersten ein zweites Opfer hinzuzufügen. Das können die Frauen zwar verhindern mit dem Geld, das sie bei sich haben. Doch die Konsequenzen werden schwer wiegen.
In ihren Hauptfiguren zeichnet Nino Haratischwili verschiedenartige und glaubwürdige Charaktere, die Teil sind eines Beziehungskosmos. Dessen Gesetze bestimmen in vielen Fällen nicht sie, sondern eine patriarchalische, von versteckter oder auch offener Gewalt geprägte Gesellschaft. Diese Gesellschaft findet sich quer durch die sozialen Schichten versammelt im Hinterhof an der Rebengasse 12. Mit Unikaten wie dem Onkel Giwi oder Ketos beiden Grossmüttern und mit Familien, die einen Mikrokosmos Georgiens bilden: von der Sippe des reichen Gangsters bis zur alleinerziehenden Möbelrestauratorin mit ihren Töchtern oder dem armen armenischen Schuster. Feste wechseln sich ab mit handfesten Rivalitäten, Streitereien mit Liebesschwüren. Denn immer gärt da auch die Sehnsucht nach wahrer, tiefer Liebe.
Die Irrwege des Landes auf Fotografien
Für ihr Gesellschaftsdrama hat Nino Haratischwili eine raffinierte Form gefunden: Keto, Nene und Ira treffen sich im Jahr 2019 in Brüssel in einer Ausstellung von Dinas Fotografien wieder. Dina, die nicht mehr lebt, hat ihre Freundschaft und als Pressefotografin auch die blutigen Irrwege ihres Landes in Bildern festgehalten. Der Gang durch die Ausstellung wird zu einem Gang durch die Vergangenheit, bei dem manches aufbricht.
Lesungen
Mi, 25.5., 19.30 Literaturhaus Zürich
Fr, 27.5., 11.00/14.00 & Sa, 28.5., 14.30 Solothurner Literaturtage (siehe Box links)
Buch
Nino Haratischwili
Das mangelnde Licht
832 Seiten
(Frankfurter Verlagsanstalt 2022)
Solothurner Literaturtage
Zu Gast an den 44. Solothurner Literaturtagen sind über 80 na-tionale und internationale Autorinnen und Autoren mit ihren Neuerscheinungen aus den Sparten Prosa, Lyrik, Jugend- und Kinderliteratur, Spoken Word, Graphic Novel und Übersetzungen: darunter Nino Haratischwili, Milena Moser, Catalin Dorian Florescu, Julia Frank, Michael Fehr. Auf dem Programm stehen Lesungen und Gespräche zu literarischen und gesellschaftspolitischen Themen. Das Festival findet auch dieses Jahr als Hybridfestival statt: live vor Ort mit Publikum und mit ausgewählten Live-Audiostreams auf der Festival-Website. Radio SRF sendet während des Festivals vor Publikum aus seinem mobilen Studio in der Cantina del Vino in Solothurn. (bc)
Solothurner Literaturtage
Fr, 27.5.–So, 29.5.
www.literatur.ch