Aufgeregt gackernd flattern die Hühner im Stall herum. Keines mag fürs Foto mit der Autorin herhalten. Doch schliesslich kriegt Silvia Tschui eines zu fassen und stellt sich mit dem gefiederten Tier in ihrem wunderbar wilden Garten am Stadtrand von Zürich in Pose.
Ein Huhn spielt auch in einer Schlüsselszene ihres neuen Romans «Der Wod» eine wichtige Rolle: Der zehnjährige Nis kommt während des Zweiten Weltkriegs bei einem Bauern im Osten Deutschlands unter, wo er ein Huhn auf dem Hackklotz festhalten soll, damit der Bauer dem Vogel den Kopf abschlagen kann. Als Nis es loslässt, kriegt er nebst einer Ohrfeige den gut gemeinten Ratschlag des Bauern: «Sei kein Wurm. Würmer werden gefressen.» Dieses Motto wird Nis fortan begleiten. Mit Härte und Zynismus geht er auch nach dem Schrecken des Krieges durchs Leben. Ganz im Gegensatz zu seinem jüngeren und sensibleren Bruder Karlchen, für den Nis nur Spott und Häme übrig hat. Das Kriegstrauma überwindet Karl, indem er später Gutes tut, sich den Ärmsten und Verlorenen widmet.
Etwas mehr Glück hat Lilli, die ältere Halbschwester. Sie folgt ihrem Verlobten Fritz in die sichere Schweiz. Im Dorf schlägt ihr allerdings Fremdenhass entgegen, für die Einheimischen ist sie die «Sautütschi». Doch die zähe Lilli wird ihren Weg gehen und sich ihren Traum vom herrschaftlichen Haus am Zürichsee erfüllen – auch wenn sie dafür ihre Tochter Sünje und ihren ersten Mann opfern muss. Für die Personifizierung des Bösen, das alle Menschen in sich tragen, steht im Roman der titelgebende «Wod», eine Teufels- und Jäger-Figur aus einer norddeutschen Sage.
Flucht aus Deutschland in die Schweiz
In ihrem packenden Familienroman, der sich über vier Generationen bis in die Gegenwart erstreckt, erzählt Silvia Tschui, wie unterschiedlich Menschen mit Kriegstraumata umgehen – und wie sie ihre Prägungen an die nachfolgenden Generationen weitergeben. Die Zürcherin hat selbst Vorfahren aus Deutschland und lässt in das Buch auch wenige Erlebnisse und Anekdoten aus der eigenen Familie einfliessen.
Ihre Grossmutter sei einst aus Deutschland in die Schweiz gekommen, wo sie anfangs unter dem harschen Empfang gelitten habe. «Die Romanfiguren sind aber alle fiktiv», betont die Autorin beim Gespräch in ihrer Wohnküche mit Blick auf das April-Schneegestöber im Garten. «Aber beim Schreiben fliessen natürlich immer eigene Erfahrungen ein.» Nis’ Zaudern beim Töten des Huhns kann sie etwa nachfühlen. Für eine Reportage hat Tschui, die im Brotjob als Redaktorin bei Ringier arbeitet, einst selbst ein Kaninchen geschlachtet.
In Klagenfurt «u hüne krass» nervös
Die 47-Jährige ist vielfältig kreativ, Stillsitzen liegt ihr nicht. Ihren Roman – gewidmet ihrem neunjährigen Sohn Max – hat sie während ihres halbjährigen Sabbaticals geschrieben, inklusive Recherche. So hat sie sich etwa in Gesprächen mit Ärzten über die Traumaforschung kundig gemacht. Oder in Archiven zur Freimaurerloge recherchiert, in der einer ihrer Protagonisten verkehrt. «Vor groben historischen Schnitzern hat mich auch mein Lektor bewahrt», sagt die Autorin, die mit ihrem zweiten Roman bei Rowohlt untergekommen ist.
Einen Auszug daraus hat sie im letzten Jahr beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt vorgetragen. «Ui, das war der Horror», erinnert sie sich. «Ich war ‹uh hüne krass› nervös.» Trotz Lampenfieber legte die Zürcherin, die zuweilen auch mit politischem Gesangskabarett auf der Bühne steht, eine gute Lese-Performance hin. Scharfe Kritik blieb – wie in Klagenfurt üblich – dennoch nicht aus. «Nebst berechtigter Kritik fand ich es unfassbar, dass mir gesagt wurde, ich dürfe als Schweizerin nicht über deutsche Themen schreiben. Aber Schwamm drüber … Jede Autorin, die was auf sich hält, ist schliesslich mal in Klagenfurt durchgefallen», sagt sie lachend.
Von der Kritik hat sie sich beim Überarbeiten des Romans zwar inspirieren, aber nicht beirren lassen. Das Resultat ist eine vielstimmige Geschichte im rasanten Wechsel zwischen verschiedenen Zeitebenen und Figuren. Eine Art Collage, aus der sich nach und nach das Bild einer vom Krieg geprägten Familie herausschält. «Das war eine bewusste formale Entscheidung», sagt sie. «Auch die Figuren sind ja durch ihre Kriegserfahrung in Stücke fragmentiert.»
Mit einem Jazzmusiker will sie die Bühne stürmen
Wie bei ihrem ersten Roman «Jakobs Ross» arbeitet sie im neuen Werk mit dialektalen Ausdrücken und spannt damit auch sprachlich einen Bogen zwischen Norddeutschland und der Schweiz. Zu «Jakobs Ross» – eine Geschichte über eine Magd im 19. Jahrhundert – entsteht gerade eine Filmadaption, die im nächsten Jahr im Kino zu sehen ist. Das Drehbuch hat Tschui bereits gelesen. «Es ist sehr nahe dran an meinem Ursprungsgedanken», freut sie sich.
Sie selbst widmet sich nun aber ihrem neusten Werk. Mit einem Jazzmusiker arbeitet sie an einer Leseperformance mit einem «Musikgenre-Generator»: «Zu den sechs Hauptpersonen haben wir sechs Musikgenres ausgewählt – ein Repertoire von 36 Songs, die bunt zusammengewürfelt werden können.» Und so wird sie sich etwa mit dem wilden Prodigy-Song «Firestarter» als Sängerin auf der Bühne austoben können. «Weil ich Lesungen immer so unglaublich langweilig finde, wollte ich ein anderes Format machen, das Spass und Herausforderung zugleich bringt», sagt sie und springt auf. Das Schneegestöber vor dem Fenster hat nachgelassen – Zeit, sich das passende Outfit und das bravste Huhn aus dem Stall fürs Foto auszusuchen.
Autorin, Sängerin, Illustratorin
Die 1974 geborene Zürcherin Silvia Tschui ist auf vielfältige Weise kreativ. Sie hat Visuelle Gestaltung an der Zürcher Hochschule der Künste und Grafikdesign und Animation am Central St. Martins College in London studiert und dort als Animationsfilm-Regisseurin gearbeitet. 2004 wurde ihre Arbeit für den British Animation Award nominiert. Zurück in der Schweiz hat sie als Grafikerin und Journalistin gearbeitet und am Institut für literarisches Schreiben studiert. Ihr erster Roman «Jakobs Ross» wurde für Theater und Film adaptiert.
Radio
«52 beste Bücher» mit Silvia Tschui
So, 2.5., 11.00 Radio SRF 2 Kultur
Buch
Silvia Tschui
Der Wod
272 Seiten
(Rowohlt 2021)
Erscheint am Mi, 21.4.