Unterschiedlicher könnten ihre Lebenswelten nicht sein: Auf der einen Seite die intellektuellen Brüder Edmond und Jules de Goncourt, die in Paris Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Bohemiens im Künstlerumfeld von Gustave Flaubert und Émile Zola gehören. Nach ihnen wurde später der Prix Goncourt, der renommierteste Literaturpreis Frankreichs, benannt.
Auf der anderen Seite ihre einfache Haushälterin Rose, der das Leben übel mitspielt. Von den Goncourt-Brüdern wird sie zwar anständig behandelt, aber nicht als menschliches Wesen mit Gefühlen betrachtet: «Sie war so diskret wie ein Tisch oder Schrank, sie gehörte so unverrückbar zu ihnen und ihrer Wohnung wie ein Möbelstück oder eine Tür, die man täglich unzählige Male öffnete und schloss, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, warum man es tat.» Von ihren Liebesqualen und gar ihrer Schwangerschaft und dem Verlust ihres Kindes kriegen die beiden Brüder, die gänzlich mit sich selbst beschäftigt sind, gar nichts mit.
Der Roman beruht auf historischen Tatsachen
Diese beiden konträren Welten verknüpft der Basler Autor Alain Claude Sulzer in seinem atmosphärisch dichten und sprachlich fein geschliffenen Roman «Doppelleben », der auf historischen Tatsachen und den Tagebüchern der Brüder Goncourt beruht (siehe Interview). Den Fokus legt er auf das Sterben und Abschiednehmen – auf beiden Seiten.
Schonungslos und zuweilen distanziert, so wie sich auch die Brüder gegenüber Rose zeigten, beschreibt Sulzer das Dahinsiechen der alkoholkranken und schwindsüchtigen Rose. Erst nach ihrem Tod merken die Brüder, dass Rose ein kräftezehrendes Doppelleben geführt hat und sie von ihr jahrelang bestohlen wurden. Das Geld hatte Rose aber nicht etwa für sich, sondern für ihren treulosen Liebhaber verwendet.
Roses Schicksal bietet den Brüdern nach ihrem Tod Stoff für ihren naturalistischen Roman «Germinie Lacerteux». Mit grosser Empathie wird hingegen Jules’ Sterben beschrieben. Der jüngere Bruder ist an Syphilis erkrankt und baut gegen Ende körperlich und geistig rapide ab – zum Entsetzen seines Bruders Edmond. Die beiden verbindet eine symbiotische Beziehung: «Es war, als hätten sie ein Herz, eine Seele, einen Verstand, eine Hand, selbst der Augenblick sexuellen Verlangens übermannte nicht selten beide zur gleichen Zeit, als wären sie ein einziges Wesen.» Sie haben stets zusammengelebt, an ihrem gemeinsamen schriftstellerischen Werk gearbeitet, ihre Gedanken und teilweise sogar die Geliebte geteilt.
Alain Claude Sulzer beschreibt Jules’ unaufhaltsames Zugrundegehen und Edmonds Ohnmacht und Angst, ohne den Seelenverwandten zurückzubleiben, in Szenen, die unter die Haut gehen. Humor hat ebenfalls seinen Platz In den Rückblenden auf das frühere Leben der Brüder blitzt aber auch oft der Humor auf. Besonders in Alain Claude Sulzers Beschreibungen des Intellektuellenzirkels, in denen sich die Brüder bewegen: etwa ihre Besuche bei Prinzessin Mathilde, der höchst launischen Cousine des Kai- sers, und ihren unerzogenen Schosshündchen.
Dass auch dieser prunkvolle Alltag 1870 ein Ende nimmt so wie die Herrschaft des Kaisers, schneidet der Autor am Ende des Romans kurz an. Für Edmond ist der Krieg und die deutsche Belagerung von Paris eine willkommene Ablenkung von der Trauer. Den Tod fürchtet er nach dem Verlust seines geliebten Bruders nicht mehr. Dennoch wird er noch über ein Vierteljahrhundert ohne ihn weiterleben müssen.
Buch:
Alain Claude Sulzer - Doppelleben
304 Seiten (Galiani 2022)
5 Fragen an Alain Claude Sulzer zur Entstehungsgeschichte des Romans
«Das schreit nach einem Romanstoff»
kulturtipp: Was hat Sie an den unzertrennlichen Brüdern Goncourt nach der Lektüre ihrer Tagebücher so fasziniert, dass Sie über die beiden einen Roman schreiben wollten
Alain Claude Sulzer: Ihre dezidierte Entscheidung, zusammen zu leben und zu arbeiten, alles zu teilen, hat mich fasziniert. Beim Lesen ihrer Tagebücher fand ich die letzte Zeit vor Jules’ Tod besonders interessant. Edmond hält Jules’ Sterben sachlich fest. Diese realistische Darstellung war im 19. Jahrhundert einmalig. Für Edmond war es ein Schock, als er feststellte, dass sein Bruder durch die Krankheit nicht mehr schreiben konnte. Alles detailgetreu im Tagebuch festzuhalten, war für Edmond ein Befreiungsschlag, sonst hätte er selbst aufgehört zu schreiben.
kulturtipp: Die Tagebücher enthalten auch viel Klatsch der damaligen Zeit, die beiden dokumentierten ihre Zeitgenossen mit spitzer Feder. Darauf gehen Sie im Roman aber weniger ein …
Alain Claude Sulzer: Ja, die beiden haben einiges Unangenehmes über ihre Zeitgenossen festgehalten, aber darauf lege ich meinen Fokus nicht. Ich könnte in meinem Roman natürlich ein völlig anderes Bild der beiden wiedergeben. Es ist ja kein historischer Roman in dem Sinne, dass ich die Wahrheit über die Goncourt-Brüder schreibe. Dazu gibt es mindestens drei Biografien, die das Leben der beiden genau darstellen.
kulturtipp: Wie sind Sie mit dem historischen Material aus den Tagebüchern umgegangen? Sie schreiben ja im Nachwort, es sei nur wenig erfunden, zitieren aber fast nie wortwörtlich.
Alain Claude Sulzer: Ich habe viel historisches Material aus den Tagebüchern benutzt, aber sozusagen nichts davon direkt übernommen. Ich bin mit ihren Sätzen frei umgegangen, halte mich aber relativ strikt an die Quellen. Der Roman soll im Fluss bleiben, der meiner eigenen Sprache entspricht. Es gibt Kleinigkeiten, die erfunden sind, aber das Wesentliche hat so stattgefunden.
kulturtipp: Wie haben Sie recherchiert, damit Sie sich so detailtreu ins Paris im Zweiten Kaiserreich zurückversetzen konnten?
Alain Claude Sulzer: In Paris habe ich mir das Haus angeschaut, in dem die Brüder lange gelebt haben. Ich wollte mir eine Vorstellung davon machen, in welchem Ambiente es steht. Es gibt zudem historische Fotografien ihres Interieurs. Dazu habe ich viel über diese spannende politische Umbruchzeit in Frankreich um 1850 bis Ende des Jahrhunderts gelesen: Einerseits war da dieses repressive System, andererseits eine Aufbruchstimmung. Aber auch die Biografien über die Brüder und ihr gemeinsamer Roman «Germinie Lacerteux », in dem sie das Leben ihrer Haushälterin beschreiben, waren nebst den Tagebüchern wichtige Quellen.
kulturtipp: Auf das Leben der Haushälterin, welche die Goncourts in ihrer Not betrogen hat, gehen Sie auch in Ihrem Roman detailliert ein. Warum haben Sie sich für diese beiden gegensätzlichen Erzählstränge entschieden?
Alain Claude Sulzer: In der Biografie der Brüder ist diese Geschichte wohl am ungewöhnlichsten und sticht am meisten heraus. Die beiden haben mit niemandem so lange zusammengelebt wie mit ihrer Haushälterin. Und trotzdem waren sie nicht fähig zu sehen, wie es um sie stand und dass sie von ihr jahrelang bestohlen wurden. Wenn man so eine Geschichte erfin- den würde, würde man sie nicht glauben … Diese zwei Welten, die so nahe beieinander sind und doch so weit auseinanderklaffen – das schreit für mich förmlich nach einem Romanstoff.