Alle schauen ihm nach, und alle schütteln den Kopf. Der Tell sei ein Hartschädel, ein Querulant, sagt Nachbarsbauer Tobler. «An dem Kerl hängt das Unheil», seufzt Tells Schwiegermutter Aloisia. Und Sohn Walter fragt sich angsterfüllt: «Wieso ist er nicht so wie andere Männer?» Tatsächlich zeigt sich der Schweizer Nationalheld im Roman des Bündners Joachim B. Schmidt nicht von seiner besten Seite. Als wortkarger, fahriger Bergler, der nach dem Stall lieber in die Berge entflieht, als sich um seine Familie zu kümmern, ist er sogar seiner Ehefrau Hedwig fremd. Nur einer zeigt sich fasziniert von diesem «aufmüpfigen Einheimischen»: Gessler, der Landvogt aus Österreich. Ausgerechnet Tells Gegenspieler mässigt seine Soldaten, die den Bergler am liebsten erschlagen würden: «Tell ist doch kein Aufständischer. Er ist ein Bergbauer!»
All diese Figuren und noch viele mehr lässt Schmidt zu Wort kommen. In kurzen Kapiteln berichten sie dem Leser, was sie denken, wie sie ihren Alltag erleben, was gerade abgeht. Schmidt verwendet dafür eine einfache Sprache, die je nach Figur ins archaisch Rohe entgleitet oder aber durchdachte Sichtweisen formuliert. So klagt der feinsinnige Gessler über seinen Dienst am Rande des Habsburgerreichs: «Es ist eine Wildnis, und sie macht einen Wilden aus mir.» Die Idee mit dem Hut auf der Stange findet er «völlig absurd». Sie stammt von Harras, seinem sadistischen Heerführer, der kalauert: «Leute wie dieser Gessler schaden nur unserem schlechten Ruf.»
Sittenbild der rauen Innerschweiz
Nur einer schweigt lange: Tell selbst. Der hat Wichtigeres zu tun als zu reden. Er ist ein Mann der Tat, der seine Familie auf dem abgelegenen Tellenhof im oberen Isenthal mit Müh und Not durchzubringen versucht. Und der dann notgedrungen zum Aufständischen wird, weil er den «absurden» Hut auf dem Marktplatz in Altdorf, wo er doch nur seine Kuh Klara verkaufen wollte, nicht grüssen will. Was darauf folgt – die eigentliche Tellensage –, ist bei Schmidt nur eines von vielen Motiven, das er aber gehörig blutrünstig erzählt. Mindestens ebenso wichtig sind Tells Traumata des verlorenen Bruders und eines spät erst wieder gefundenen Freundes.
Joachim B. Schmidt, der in Island lebt und zuletzt mit seinem Krimi «Kalmann» für begeistertes Leserecho sorgte, überrascht mit «Tell» mehrfach. Nach drei Island-Romanen kehrt er erzählerisch in die Schweiz zurück und packt sich gleich den Nationalhelden. Dessen Geschichte aber modelt er zum hoch spannenden Alpenthriller um, zum raffinierten Psychogramm und authentisch wirkenden Sittenbild der rauen Innerschweiz im 14. Jahrhundert. Zu diesem Vorgehen, so verrät der Autor in seiner Danksagung am Schluss des Buchs, habe ihn der isländische Kollege Einar Kárason mit seinen Mittelalterromanen inspiriert. «Tell» liest sich in einem Zug, mit prickelndem Vergnügen, wohligem Schauer und überraschenden Wendungen.
Lesung
Do, 3.3., 19.30 Stadtbibliothek Baden AG
Fr, 4.3., 19.00 Kantonsbibliothek Uri Altdorf
Sa, 5.3., 17.00 Buachlada Kunfermann Thusis GR
www.joachimschmidt.ch
Buch
Joachim B. Schmidt
Tell
288 Seiten
(Diogenes 2022)