Roman: Ein Fenster in die Welt
Die Pulitzer-Preis-Trägerin Jhumpa Lahiri vereint in ihrem Roman «Wo ich mich finde» Alltagsminiaturen in federleichter Prosa.
Inhalt
Kulturtipp 14/2020
Babina Cathomen
Jhumpa Lahiri wurde als Tochter bengalischer Eltern in London geboren, ist in den USA aufgewachsen und pendelt heute zwischen New York und Rom. Wohin das Leben die Menschen führen kann und was sie prägt, das verhandelt die Schriftstellerin auch in ihren Büchern. Den neusten Roman «Wo ich mich finde» hat sie in Italienisch geschrieben – und überzeugt auch in der neu erlernten Sprache mit präzisen Beschreibungen und glasklarer Prosa, die Marg...
Jhumpa Lahiri wurde als Tochter bengalischer Eltern in London geboren, ist in den USA aufgewachsen und pendelt heute zwischen New York und Rom. Wohin das Leben die Menschen führen kann und was sie prägt, das verhandelt die Schriftstellerin auch in ihren Büchern. Den neusten Roman «Wo ich mich finde» hat sie in Italienisch geschrieben – und überzeugt auch in der neu erlernten Sprache mit präzisen Beschreibungen und glasklarer Prosa, die Margit Knapp nun gewandt ins Deutsche übersetzt hat.
Lahiris Ich-Erzählerin im 170-seitigen Bändchen ist eine stille Beobachterin, fühlt sich «am Rand von allem». Denn das Leben der Uni-Dozentin Mitte 40 verläuft meist ereignislos. In ihrem Quartier in einer unbenannten italienischen Stadt folgt sie stets denselben Pfaden und Tagesabläufen: Die Trattoria, die Buchhandlung, das Schreibwarengeschäft, das Büro, das Schwimmbad, der Balkon. Ihre kurzen Kapitel überschreibt Jhumpa Lahiri mit diesen Ortsangaben und lässt die Leserinnen mit der stillen Einzelgängerin mitflanieren.
Sinnierend und analysierend bewegt sie sich durch die Welt, oft abgekapselt vom lebendigen Gewusel ihrer Stadt und doch mittendrin. Meist nüchtern, zuweilen mit Ironie, betrachtet sie die Bewohner und sich selbst. Die wenigen Bezugspersonen bleiben Randfiguren im Roman: der Mann der Freundin, mit dem sie eine unerfüllte Liebe verbindet, der unzuverlässige Liebhaber oder die Mutter, von der sie in Erinnerung an ihre Kindheit sagt: «Sie wachte über mich, beschützte mich vor der Einsamkeit wie vor einem Albtraum oder einer Wespe.»
Jhumpa Lahiri, die bereits als 33-Jährige mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, führt mit grosser Ruhe durch das Leben dieser Frau. In ihrer selbst gewählten Einsamkeit hat sich die Ich-Erzählerin recht gut eingerichtet, die Erwartungen ihrer Eltern oder der Gesellschaft hat sie bewusst nicht erfüllen wollen und ist ihren eigenen Weg gegangen. Dennoch fragt sie sich manchmal, was geworden wäre, wenn sie an einer Gabelung im Leben eine andere Richtung eingeschlagen hätte. Und plötzlich geht – ganz leise, fast nebenbei – ein Fenster in die Welt auf und deutet auf einen möglichen Aufbruch hin.
Buch
Jhumpa Lahiri
Wo ich mich finde
Aus dem Italienischen von Margit Knapp
170 Seiten
(Rowohlt 2020)