Dieser Roman startet explosiv: Im Sommer 2008 fliegt ein Sauerstofftank in der Kleinstadt Miracle Creek im US-Bundesstaat Virginia in die Luft – die Feuersbrunst tötet einen achtjährigen Jungen und eine fünffache Mutter, weitere Menschen werden schwer verletzt. Ein Jahr später steht die Mutter des getöteten Jungen vor Gericht: Elizabeth soll ihren autistischen Sohn Henry vorsätzlich umgebracht und den Tod anderer Menschen in Kauf genommen haben.
Enthüllungen werden nach und nach preisgegeben
Nach dem kurzen Blick in die Vergangenheit setzt Angie Kim in ihrem Justizthriller «Miracle Creek» ein Jahr später bei Tag eins der Verhandlung an und rollt aus wechselnder Täter- und Zeugen-Perspektive die Tragödie auf. Und es zeigt sich, dass sowohl die Angeklagte als auch die Zeugen und Überlebenden einiges zu verbergen haben. Etwa die Familie Yoo, die aus Südkorea eingewandert ist und in Miracle Creek Behandlungen mit reinem Sauerstoff in einer Druckkammer anbietet. Die tatsächlich existierende sogenannte HBO-Therapie soll etwa bei Autismus oder Unfruchtbarkeit helfen. Bis zum fatalen Unfall läuft das Geschäft für das Ehepaar Yoo nicht schlecht, auch wenn die Familie mit Teenager-Tochter Mary nach wie vor in einer einfachen Hütte hausen muss. In welchem Verhältnis Mary zum viel älteren Matt steht, der mit der Familie befreundet ist, wird erst allmählich klar. Matts Frau, die ihren Mann zur Verbesserung seiner Spermien-Qualität zur HBO-Therapie schickt, wird jedenfalls von Eifersucht geplagt.
Geschickt komponierte Geschichte
Zur HBO-Schicksalsgemeinschaft gehören auch «Mutter Teresa», die sich aufopferungsvoll um ihre schwerstbehinderte Tochter Rosa kümmert, und Kitt, die ihren autistischen Sohn TJ behandeln lässt. Bis zum Tag des Unglücks, bei dem Kitt und der achtjährige Henry ums Leben kommen. Doch wer hat das Feuer unter der Sauerstoffleitung gelegt? Hat sich Elizabeth tatsächlich den Tod ihres einzigen Kindes gewünscht, weil er nicht ihren Vorstellungen des perfekten Sohns entsprach?
Die Autorin legt viele Fährten und hält die Spannung in ihrem geschickt komponierten Justiz-Thriller bis zur letzten Seite aufrecht. Nebst der Frage nach Wahrheit, Schuld und Sühne spricht sie – ohne sich zu verzetteln – weitere Themen an: etwa die überhöhten Erwartungen, welche die Gesellschaft an Mütter hat. Oder die Überforderung vieler Mütter, gerade mit behinderten Kindern, die an sich selbst die höchsten Ansprüche stellen und sich keine negativen Gefühle eingestehen wollen. Der Roman handelt aber auch von unheilvollen Geheimnissen in Paarbeziehungen. Von Gerichtsverhandlungen, die manch-mal einer Theaterinszenierung gleichen, wenn die Wahrheit so zurechtgebogen wird, wie sie gerade passt. Und schliesslich auch von der Situation von Einwanderern, die mit grossen Ambitionen im Sehnsuchtsland USA ankommen, wo sie mit Rassismus konfrontiert sind und oft ihre Träume begraben müssen.
Autorin schöpft aus eigenem Erfahrungsschatz
Angie Kim lässt in ihrem gelungenen Debüt autobiografische Elemente einfliessen. Als Jugendliche ist sie mit ihren Eltern aus Südkorea in die USA eingewandert, hat Jura studiert und als Strafverteidigerin gearbeitet. Sie hat selbst einen autistischen Sohn, der mit der Sauerstoff-Therapie behandelt wurde. Viele Fragen, mit denen sie sich im Roman beschäftigt, hat sie sich selber gestellt.
Buch
Angie Kim
Miracle Creek
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger
512 Seiten
(Hanserblau 2020)