Bruder Nummer Acht, der Erzähler dieser Geschichte, hat es von allen am besten getroffen, darin sind sich die Geschwister einig. Denn Bruder Acht ist schon als Säugling verstorben. Der Roman «Glänzende Aussicht» der chinesischen Autorin Fang Fang setzt seinen Ton bereits mit dieser ungewöhnlichen Erzählperspektive.
Schonungsloser Blick aus dem Kindergrab
Fang Fang wurde in Europa 2020 mit ihrem «Wuhan Diary» bekannt, in dem sie das Leben in der abgeriegelten Stadt während der Coronapandemie schildert. Die Schriftstellerin wagt sich trotz massiver staatlicher Repression immer wieder an chinesische Tabuthemen. In «Glänzende Aussicht» beschreibt sie eine Proletarierfamilie während der sogenannten Kulturrevolution von Mao Zedong. Das Buch wurde bereits 1987 veröffentlicht und erscheint nun endlich auch auf Deutsch.
Bruder Acht erzählt vom Familienalltag aus seinem Kinder grab heraus mit schonungslosem und doch empathischem Blick, der nur in der eigenen Familie möglich ist. Der Vater, der zwischen Bandenkämpfen und Schnapsrausch seine Familie verprügelt, die Schwestern, die ihn dazu anstacheln, und der jüngste Bruder Sieben, der unterm Elternbett schläft wie ein Hund und nur selten Momente der Zuneigung erfährt.
Einmal, nach besonders brutalen Schlägen des Vaters, nimmt ihn Bruder Zwei in die Arme. Als dieser aus dem Haus gescheucht wird, «wickelt Bruder Sieben sein kleines Baumwollhandtuch zu einer Rolle zusammen und stellt sich vor, es wäre der Arm von Bruder Zwei».
Fang Fang schafft mit einer mal feinfühligen, mal derben Alltagssprache Bilder und Figuren, deren Unebenheiten eine berührende Vielschichtigkeit offenbaren. Beim Lesen lässt sie einen hin und her taumeln. Einerseits verfolgt man die Geschichte der Geschwister mit einer aufkeimenden Hoffnung, sie könnten sich ein angenehmeres Leben aufbauen.
Andererseits sind die Hauptcharaktere weder edelmütig noch integer, zwischenzeitlich sogar abstossend. Die ihnen zugestossene Gewalt hat Spuren hinterlassen. Sieben etwa, der mittlerweile gesellschaftlich und politisch aufgestiegen ist, hegt Rachefantasien, die sexuelle Gewalt an seinen Schwestern beinhalten.
Wut über die Zustände sichtbar machen
«Glänzende Aussicht» ist nicht nur ein aussergewöhnlicher Milieubeschrieb, sondern auch eine Abrechnung mit dem frühkapitalistischen urbanen China. In dem sie die männlichen Familienmitglieder fast ausschliesslich mit der Reihenfolge ihrer Geburt bezeichnet, zeigt Fang Fang die strikt patriarchale Familienordnung und das Ideal des Kinderreichtums auf.
In «Wuhan Diary» schrieb die Autorin, sie bemühe sich, ihr Hirn «von ideologischem Müll» zu befreien. Damit ist auch das literarische Dogma des «sozialistischen Realismus» gemeint, dem sie mit «Glänzende Aussicht» einen wertungsfreien, tatsächlichen Realismus entgegensetzt. Ihre Wut über die Zustände und deren Verschleierung zeigt sich in drastischen Beschreibungen. Das ermöglicht eine emotional anspruchsvolle, aber bereichernde Perspektive auf Chinas Geschichte, die nachhallt.
Fang Fang
Glänzende Aussicht
Übersetzung: Michael Kahn-Ackermann
174 Seiten
(Hoffmann und Campe 2024)