«Ein stetiges Anschwellen von nichts», ein «Crescendo der Leere», ein Ort, «dem alles Lebendige entzogen worden ist» – Ostrog. Dorthin schickt Sasha Filipenko in seinem Krimi seinen Kommissar. Alexander Koslow aus Moskau soll in der Provinz ermitteln. Eine mysteriöse Serie von Suiziden erschüttert ein Kinderheim.
Lust zu ermitteln hat Koslow nicht. Seine Frau hat ihn verlassen. Er vermisst sie schrecklich. Zudem ist ihm sein letzter Besuch in Ostrog in schlechter Erinnerung. Am Ende des Buchs wird sich herausstellen, wie verhängnisvoll die vergangenen Ermittlungen waren.
Aber erst einmal taucht man ab in die Trostlosigkeit von Ostrog und das Leben der Kinder und Jugendlichen, die dort ohne Eltern und Liebe leben. Eine Teenagerin ist schwanger. Dass Schwangere im Kinderheim abtreiben, ist den Erzieherinnen bekannt, dass sich andere Jugendliche ritzen, ebenso. Alltag.
Alle Figuren sind auf ihre Weise gefangen
Koslow spricht mit der Heimleiterin, mit seinem Kollegen vor Ort, wälzt Akten. Nichts ergibt Sinn. Ein Sündenbock ist dennoch rasch gefunden. Der kauzige Pjotr Petrowitsch Pawlow, mit Rufnamen Petja. «Übermässig diszipliniert», «pedantisch», «erweckt bei den Pädagogen keine Sympathien», halten die Pädagogen über ihren ehemaligen Zögling fest.
Kurz: Petja ist verdächtig – da zu korrekt als Mensch. Die Szenen, in denen Filipenko beschreibt, wie Petja gefoltert wird, um angebliche Morde zu gestehen, gehören zu den schlimmsten im Buch. Weil man weiss, dass die Foltermethoden nicht erfunden sind.
Auch sonst ist der Umgang unter den Polizisten, Ermittlern, Heimkindern und Erzieherinnen oft hart bis derb. Die Erzählperspektiven der Figuren wechseln sich ab, die Kapitel sind kurz – das verschafft nebst dem latent präsenten bissigen Humor beim Lesen etwas Leichtigkeit.
Am Ende ist die Erklärung für die Suizide so banal wie vielschichtig. Ohne das Ende zu verraten: Filipenkos Figuren sind gefangen. Alle auf ihre Weise, aber alle in einem düsteren Russland, dessen Bürgerinnen und Bürger, dessen Kinder zwischen Autoritätshörigkeit, Korruption und schwindender Menschlichkeit zermahlen werden.
Schergen wüten, Unschuldige sitzen ein
Das Bild, das Sasha Filipenko von Russland zeichnet, hat sich nicht aufgehellt. Der Roman entstand vor dem Ukrainekrieg. Die kritischen Medienschaffenden, die der Autor auftreten lässt – beinahe schon ein Relikt. Der gebürtige Belarusse selbst studierte in St. Petersburg und arbeitete später als Journalist, Drehbuchautor, Sketchschreiber und Fernsehmoderator, unter anderem für den Oppositionssender «Doschd».
2014 erschien sein Debütroman «Der verlorene Sohn» auf Russisch. Von Beginn weg übte Filipenko mit seiner Literatur Gesellschaftskritik. Auch zu den Protesten in Belarus äusserte er sich kritisch. Seit 2020 lebt er im Exil in der Schweiz. Im November 2023 wurde sein Vater in Minsk verhaftet. Eine Realität, die sich mit den Begebenheiten im Buch überschneidet – Schergen wüten, Unschuldige sitzen ein, in Minsk wie in Ostrog. «Ostrog» bedeutet übersetzt auch Gefängnis.
Buch
Sasha Filipenko
Der Schatten einer offenen Tür
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
272 Seiten
(Diogenes 2024)