Der Basler Kommissär Hunkeler gehört zu den beliebtesten Krimifiguren der Schweiz. Er ist zwar stur, oft grummlig, aber ein Menschenfreund, der ein Herz für die Schwachen und Versehrten hat. Die Sturköpfigkeit ist im Alter fast noch ausgeprägter, wie sich in seinem zehnten Fall «Hunkeler in der Wildnis» zeigt. Der pensionierte Kommissär ist sichtlich alt geworden, macht mitten am Tag ein Nickerchen und versinkt in Erinnerungen. Aber nach wie vor brennt ein Feuer in ihm: Eine laute Balkon-Party in einer heissen Sommernacht gegenüber seiner Basler Wohnung beendet er schon mal mit gezielten Kartoffel-Wurfgeschossen. Und seinen alten Knochen mutet er zuweilen eine Nacht im Park oder im Wald zu, wenn es ihn in die Wildnis zieht.
Blick hinter die Fassaden der Menschen
Und natürlich kann der alte Kauz auch das Ermitteln nicht lassen. Während einer Kaffeepause im Kannenfeldpark ruft eine Frau um Hilfe, die ums Eck einen Mann mit eingeschlagenem Schädel entdeckt hat: Es ist der bekannte ehemalige Kunstkritiker Schmidinger – erschlagen von einer Boule-Kugel. Wider Willen wird Hunkeler in den Mordfall hineingezogen und kommt der Wahrheit durch Gespräche mit Schmidingers Boule-Kollegen näher.
Im Mittelpunkt von Hansjörg Schneiders Roman stehen aber nicht die Auflösung des Verbrechens, sondern die Gedanken und Naturbeobachtungen des Ex-Kommissärs, der zwischen seiner Wohnung in Basel und seinem idyllischen Haus im Elsass pendelt. Immer wieder bricht in die Zivilisation mit unkontrollierbarer Macht die Wildnis ein: Etwa durch den wilden Hund, der Hunkelers Nähe sucht und doch als Raubtier agiert. Aber auch durch den Menschen, hinter dessen Fassade das Abgründige lauern kann.
Der 82-jährige Hansjörg Schneider hat mit seiner Figur Hunkeler und dessen geliebter Hedwig, die er in Anlehnung an seine verstorbene Frau beschreibt, schon immer viel Autobiografisches in seine Krimis einfliessen lassen. Nebst der bissigen Gesellschaftskritik macht sich Hunkeler nun auch vermehrt Gedanken zum Alter und zur Endlichkeit des Lebens. «Die Wahrheit ist, dass du ein Fossil bist, das nicht in die heutige Zeit passt», sagt ihm ein aufsässiger Boulevard-Journalist. Das würde er selbst wohl nicht abstreiten – trotzdem bleibt er immer nahe am heutigen Menschen, an all den verlebten Gestalten, mit denen er in Basel und Umgebung tiefsinnig plaudert.
Verlockungen der Quarantäne
In Corona-Zeiten sitzt auch der Autor zu Hause. Zur aktuellen Situation und seinem neusten Buch lassen sich durchaus Parallelen ziehen, sagte er in der SRF-Sendung «Kulturplatz» im Telefongespräch: «Das Virus ist auch ein Einbruch in die Realität, der alles verändert. Die glatte Fläche unserer Gesellschaft wird brutal aufgerissen, und es kommt etwas Unheimliches zum Vorschein.» Eine positive Seite hat Schneiders Quarantäne: Denn eigentlich dachte er, dass ihm die Kraft für einen neuen Roman fehle. In der Einsamkeit der Isolation hat er aber gemerkt: «Sätze aufschreiben – das ist Leben, das ist Widerstand.» Und so können sich die Leser Hoffnungen auf einen neuen Schneider-Roman, vielleicht sogar einen Hunkeler-Krimi, machen.
Buch
Hansjörg Schneider
Hunkeler in der Wildnis
224 Seiten
(Diogenes 2020)