Der Mann steht vor dem Bild «Im Wintergarten» des französischen Impressionisten Eduard Manet. «Tschudi vergass sein Dasein in diesen Minuten. Die Leinwand saugte es in sich.» Die Szene trägt sich Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen Nationalgalerie von Berlin zu. Oder sie könnte sich zumindest so zugetragen haben, wie Autorin Mariam Kühsel-Hussaini es im Roman «Tschudi» beschreibt.
Hugo von Tschudi (1851–1911), Sohn eines Schweizer Diplomaten, war in Österreich aufgewachsen und wurde Direktor der Berliner Nationalgalerie. Er galt als eine Kunstkoryphäe, die vor allen anderen die Zeichen der Zeit erkannt hatte. Tschudi spürte, dass die deutsche Romantik und der Symbolismus als rückwärtsgerichtete Ausdrucksformen vorbei waren.
Mittendrin im Kulturkampf
Die Zukunft gehörte dem Farbenreichtum des französischen Impressionismus, Malern wie Claude Monet, Paul Cézanne oder Eduard Manet. Eines der wichtigsten Werke, die Tschudi in Paris kaufte, war Manets «Im Wintergarten». Es zeigt ein Ehepaar, das in einer ungeklärten Beziehung zueinander steht.
Die afghanisch-deutsche Autorin Mariam Kühsel-Hussaini zeichnet in ihrem Roman ein facettenreiches Porträt Tschudis. Sie stellt ihn in den Mittelpunkt des damaligen Kulturkampfs zwischen der Moderne und den reaktionären Kulturvorstellungen im untergehenden Kaiserreich Wilhelms II. Dieser lehnte die französische Moderne und damit die 30 von Tschudi aufgekauften Werke vehement ab und wollte sie gar – vergeblich – aus dem Museum verbannen.
Der Roman ist mehr als die Charakterdarstellung eines aussergewöhnlichen Schweizers. Die Autorin zeichnet die Kulturdebatte jener Zeit nach, sie malt ein Sittenbild des wilhelminischen Berlin, und sie karikiert die zeitgenössischen Protagonisten. Unvergleichlich bleibt etwa eine Szene, in der Tschudi mit dem Bildhauer Auguste Rodin speist: «Rodin erzählte vollen Mundes, dabei sauf-schlürfend wie ein Bulle, er habe die Modelle nach Hause geschickt …». Sie hätten ihn von der Völlerei abgelenkt.
Tschudi erkannte, dass der Impressionismus mehr war als eine neue Kunstrichtung. Diese Malerei stand vielmehr für den gestalterischen Aufbruch im bürgerlichen Zeitalter: «Der sicherste Weg, zum Verständnis der Kunst zu gelangen, wird immer der sein, dass sich das Publikum durch wiederholtes vorurteilsloses Anschauen des Besten selbst erzieht …», bilanziert Tschudi gemäss der Autorin. Heute würde man von einem interaktiven Kunstverständnis reden.
Hugo von Tschudi war ein gross gewachsener, liebenswürdiger Mann von scharfem Verstand. Er war verletzlich, zumal er eine Gesichtsmaske tragen musste. Denn er litt unter der Wolfskrankheit, einem Hautleiden, die sein Gesicht zerfrass. Dessen ungeachtet war er in der Avantgarde ebenso angesehen wie in den aufgeklärten Kreisen des Unternehmertums. Zumal dieses gegenüber dem künstlerischen Fortschritt wesentlich offener war als die damals dominierenden nationalistischen Politiker. Tschudi wusste stets genau, auf wen er zu setzen hatte, um seine Visionen zu verwirklichen. Und er ging unerschütterlich seinen Weg.
Buch
Mariam Kühsel-Hussaini
Tschudi
320 Seiten
(Rowohlt 2020)