Selbsterkenntnis kann schmerzhaft sein. «Das Bild einer fern von Paris auf Abwege geratenen Frau, die sich in einen grossen, durch ein einsames Leben komplexbeladenen Kindskopf verliebt hatte.» So sieht sich die Protagonistin Fanny, eine etwas in die Jahre gekommene Dame, nachdem sie sich ihren Schwiegersohn als Bettgefährten angelacht hat.
Mit Boshaftigkeit und messerscharfem Verstand
Die pikante familiäre Konstellation hat sich Françoise Sagan (1935–2004) ausgedacht. Die Schriftstellerin ist in den 1950er-Jahren mit dem Bestseller «Bonjour Tristesse» berühmt geworden, einer Beziehungskiste mit vielen Freizügigkeiten. Im Roman «Die dunklen Winkel des Herzens» ist sie ihrem Thema treu geblieben, setzt aber auf mehr Ironie und Slapstick-Szenen: Menschen leben aneinander vorbei und überwinden ihre Einsamkeit höchstens im Bett. Mit messerscharfem Verstand und köstlicher Boshaftigkeit analysiert sie die Scheinheiligkeiten des bürgerlichen Zusammenlebens – zum Gaudi ihrer Leserschaft.
Der bisher unveröffentlichte, nun auch auf Deutsch erschienene Roman spielt in der französischen Provinz, der Touraine, südwestlich von Paris. Hier residiert der landwirtschaftliche Unternehmer Henri Cresson, «der König der Kresse, der Hülsenfrüchte und anderen Unsinns», in einem geschmacklosen Landhaus. Er teilt sein Dasein mit seiner zweiten Frau Sandra, einem kränklichen Wesen, dessen Unscheinbarkeit einzig eine Duftnote bereichert: «Das schwere, blumige Parfum ging ihrer Anwesenheit voraus wie die Fanfarenklänge in der ‹Aida›.» Henris linkischer Sohn Ludovic und dessen zänkische Frau Marie-Laure leisten dem Paar Gesellschaft. Alle scheinen vor sich hinzudämmern – Butler und Hund inklusive.
Dann taucht Fanny auf, die Mutter von Marie-Laure, und bringt Schwung in den Laden. Vater und Sohn verknallen sich in sie, denn sie verspricht etwas Ablenkung von ihren routinemässigen Besuchen im nahen Bordell. Zumal Fanny eine Frau der grossen Gefühle ist: «Als sie das Fenster öffnete, berührt ein Blatt sanft ihre Wange, wie zur Begrüssung. Sie lächelte …» Sie gönnt ihre Zuneigung dem armen Ludovic, der jahrelang in der Psychiatrie darbte, wohin ihn die Familie verfrachtet hatte. Umso gieriger ist er nun auf amouröse Eskapaden. Sagan beherrschte die Kunst des maliziösen Kitsches meisterhaft.
Ein Zufallsfund unfertiger Manuskripte
Sagans Sohn Denis Westhoff hat «Die dunklen Winkel des Herzens» als unfertiges Manuskript im Nachlass seiner Mutter gefunden. Ursprünglich zögerte er, den Text herauszugeben, zumal er lange nicht begriff, dass die Blätter von zwei verschiedenen Mappen zusammengehörten.
Verbiesterte Kritiker zogen zugleich über die Untiefen des Romans her, der zwar kaum als wegweisende Literatur in die Geschichte eingehen wird, aber allemal köstliche Unterhaltung in der Form eines Kammerspiels bietet. Dieses Buch erinnert an das Leben einer Autorin, die selbst unter lähmender Einsamkeit litt, die sich jahrelange in Drogen- und Alkoholexzesse flüchtete und mit dem Geld nicht umzugehen wusste. Aber sie vermochte ihre Mitmenschen zu durchschauen – wahrscheinlich zu gut.
Buch
Françoise Sagan
Die dunklen Winkel des Herzens
189 Seiten
(Ullstein 2019)