Kopfüber stürzte sich Arno Geiger für ein paar Stunden pro Woche jeweils im Morgengrauen ins Abenteuer – und durchwühlte die Altpapiercontainer von Wien. Im Müll fand er zahlreiche Schätze: alte, teilweise wertvolle Bücher, die er als junger Mensch auf dem Flohmarkt zu Geld machen konnte, oder weggeworfene Briefe und Tagebücher, in die er sich daheim am Schreibtisch vertiefte.
Dieses ungewöhnliche Hobby, das er auch noch ausübte, als er längst ein international anerkannter Autor war, hat seinen Blick auf die Welt geprägt. «Meine künstlerische Entwicklung wurde nicht nur von Weltliteratur vorangetrieben, sondern ganz wesentlich auch von Abfall, von Hingeschmiertem und Verworfenem», schreibt er im neuen Buch «Das glückliche Geheimnis».
Die im Müll gelandeten Briefe und Notizen fremder Menschen haben ihn viel über sein Leben und Schreiben gelehrt. An ihnen hat er seine Empathie und Menschenkenntnis geschult, die stets in seinen Büchern aufleuchtet. «Je mehr solcher Konvolute ich las, desto stärker trat das Gemeinsame und Grundsätzliche im Leben der Menschen zutage, in der Summe eine Art Schwarmintelligenz», hält er fest. Und für den zunehmend erfolgreichen Schriftsteller hatte es auch seinen Reiz, «ein Vagabund» zu sein, «ein Stadtstreicher, ein Lumpensammler, ein Niemand und weiter nichts».
Keine unangenehme Nabelschau
In sein «Doppelleben» eingeweiht war nebst seiner Liebsten fast niemand. Erkannt wurde er auf seinen Touren selbst dann nie, nachdem er den Deutschen Buchpreis gewonnen hatte und eine öffentliche Person wurde: «Jemand, der im Abfall nach Verwertbarem sucht, bewegt sich in einer anderen Sphäre. So jemandem schaut man nicht ins Gesicht (...). So jemand hat kein Ansehen. Und wer kein Ansehen hat, ist unsichtbar.»
Mit seinem autobiografischen Buch gibt der 54-Jährige einen offenen Einblick in seine zähen Anfänge als Schriftsteller, sein Scheitern und seine Erfolge, sein Leben und sein Schreiben. Und betreibt damit dennoch nie eine unangenehme Nabelschau. Vielmehr ist es ein flammendes Plädoyer für die krummen Wege im Leben, die ihn zu dem gemacht haben, der er heute ist. Und für eine ungekünstelte Literatur mit lebendigen Figuren, die ebendiesen krummen Wegen, den Widersprüchen und dem Rätselhaften der Menschen Raum lässt. Denn der Mensch, das haben ihn die fremden Briefe gelehrt, ist alles andere als ein logisches Konstrukt.
Mit liebevollem Blick auf andere
Allgemeinmenschliches lässt sich auch aus Arno Geigers Beschreibungen seines bisherigen Lebens ziehen, das er in der Rückschau mit trockenem Humor betrachten kann: etwa wenn er von seinem in jungen Jahren turbulenten Liebesleben erzählt, das ihm einige stressbedingte Hautausschläge bescherte, oder von der hohen Kunst, eine vertrauensvolle, langjährige Beziehung zu führen.
Wie schon im Roman «Der alte König in seinem Exil» über seinen dementen Vater erzählt er auch hier von seinen zunehmend hilfsbedürftigen alten Eltern. Den liebevollen Blick, den er in seinen Büchern auf andere richtet, wirft er in diesem Buch auch auf sich selbst – nicht ohne sich und seine Kunst immer wieder kritisch zu hinterfragen. So ist ein Buch entstanden über das Suchen und Finden von Glück – ob in der Altpapiertonne oder anderswo.
Lesung
mit Arno Geiger
Mi, 22.3., 19.00 Literaturhaus Basel
Buch
Arno Geiger - Das glückliche Geheimnis
240 Seiten (Hanser 2023)