Ein Entwicklungsroman vor der Kulisse Ostafrikas: Der zwölfjährige Yusuf wird an einen arabischen Händler verschachert, weil sein Vater diesem Geld schuldet. Der Junge bricht mit seinem neuen Herrn und dessen Gefolge auf eine Handelsreise von der Küste Tansanias in das Kongobecken auf. Dabei geht fast alles in die Binsen. Lug und Betrug herrschen, ein fürchterlicher Sturm kommt auf, und tropische Krankheiten wüten. Zum Schluss wird die Expedition ausgeraubt; die letzten Handelsgüter sind weg.
Verhältnis von Afrika und Europa im Visier
«Das verlorene Paradies» lautet der ironische Titel dieses Romans des letztjährigen Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah. Das Buch ist 1994 auf Englisch erschienen und war lange Zeit vergriffen. Jetzt ist es auf Deutsch neu herausgekommen, versehen mit einer zeitgeistigen Triggerwarnung, dass in diesem Buch Menschen als «Wilde», «Eingeborene» oder «Kaffer» bezeichnet werden. Nicht etwa von Europäern, sondern von Afrikanern.
Der 73-jährige Schriftsteller Abdulrazak Gurnah lebte in seiner Kindheit in Sansibar und kam mit 20 Jahren nach England. Er studierte in Grossbritannien und dozierte kurze Zeit in Nigeria. Später promovierte er in Canterbury an der University of Kent, wo er bis zu seinem Ruhestand als Literaturprofessor arbeitete und heute noch lebt. Neben seiner akademischen Tätigkeit fand er stets Zeit zum Schreiben und veröffentlichte ein knappes Dutzend Romane.
Gurnah beschäftigte sich zeit seines Lebens mit dem Verhältnis zwischen Afrika und Europa. Dabei enthält er sich der gängigen Schuldzuweisungen zwischen Kolonialisten und Kolonisierten. Die Hierarchie ist jedoch klar: «Der weisse Mann im Wald fürchtete nichts, wenn er unter seiner Fahne sass, umringt von bewaffneten Soldaten.»
Mit menschenfreundlicher Ironie
Ostafrika war bereits vor dem Einmarsch der Deutschen eine gefährliche Weltgegend, ausgebeutet von Arabern und Indern, die in unendliche Auseinandersetzungen zwischen den einheimischen Völkern verwickelt waren. Zu Beginn des Romans lebt Yusuf indes tatsächlich in einem Paradies. Er verbringt eine verspielte Kindheit. Bis eines Tages «Onkel Aziz» auftaucht und ihn mitnimmt. Das Kind versteht nicht warum, denkt jedoch nicht ans Rebellieren: «Wenn Aziz einen Raum betrat, schien seine Gegenwart wie etwas von der Person Losgelöstes hereinzuwehen, Überfluss, Reichtum und Wagemut anzukündigen.» Aziz erweist sich als ein gutmütiger Sklavenhalter, erkennt die schnelle Auffassungsgabe des Jungen und fördert ihn. Der Erzähler berichtet aus der Sicht des jungen Yusuf, der sich nach und nach in dem komplexen Machtgefüge zwischen den Ethnien zurechtfindet: «Indische Kaufleute liehen den Arabern Geld, um mit Elfenbein und Sklaven zu handeln.» Andere Araber stahlen das Geld, «kauften Sklaven von einem der Sultane dieser Wilden und zwangen sie, auf den Feldern zu arbeiten».
«Das verlorene Paradies» ist erfrischend, weil sich die Handlung nicht in den üblichen, moraltriefenden Schablonen bewegt. Gurnah beherrscht viel-mehr eine subtile, menschenfreundliche Ironie. In diesem Roman gibt es bei aller Gewalt keine «Guten» und keine «Bösen». Alle Protagonisten wollen so gut wie möglich überleben und halten sich dabei an moralische Regeln, die bei Bedarf biegsam sind.
Buch
Abdulrazak Gurnah
Das verlorene Paradies
Aus dem Englischen von Inge Leipold
333 Seiten
(Penguin 2021)