Eine Dorfgemeinschaft kann Wärme und Geborgenheit vermitteln. Für diejenigen, die anders sind als die anderen, kann die Gemeinschaft aber auch pure Einsamkeit bedeuten. So ergeht es etwa dem jungen, zart gebauten Yann, der mit seinen Eltern von der Stadt aufs Land zieht und versucht, in der Schule Anschluss zu finden. Er bleibt mit seinem fremden Dialekt der Aussenseiter in der wilden Kinderbande – bestehend aus Nora, Barbara und ihrem Bruder Adam sowie den Geschwistern Annemarie und Hans.
In ihrer rauen Welt mit Mutproben, Prügeleien und der Hackordnung findet er sich nicht zurecht. Zwar gibt es mit der Zeit auch Momente der Nähe, besonders zu zweit. Mit Adam etwa verbindet ihn ein starkes Band. Aber in der Clique wird er abgelehnt. In einer Winternacht artet die Gruppendynamik in Gewalt aus, Yann wird schwer verletzt …
Das Unfassbare löst Fragen aus
Die 28-jährige Schriftstellerin Yael Inokai erzählt diese Geschichte in einer Rückblende. Die Kinder sind zu jungen Erwachsenen geworden, als das Unfassbare geschieht: Die stille, kluge Barbara ertränkt sich im Fluss. Bereits als Kind lebte sie meist in ihrer eigenen Welt, sprach nur selten. Allein durch ihre Körperfülle und ihre Präsenz war ihr aber der Respekt der anderen sicher. Nur vor dem eigenen Vater konnten sie und ihr Bruder Adam sich nicht schützen, wenn er wieder einen seiner cholerischen Ausbrüche hatte.
Nach Barbaras Tod steht das Dorf unter Schock. Besonders ihre ehemaligen Kameraden stellen sich die Frage: «Warum?» Konnte sie mit der Schuld an der gemeinsam begangenen Gewalttat nicht mehr leben?
Eine Tragödie aus drei Perspektiven
Yael Inokai fächert die Tragödie in ihre Einzelteile auf und dringt nach und nach zum Kern vor. Aus drei Perspektiven schildert sie die Kindheit im Dorf: die reflektierte Nora und Barbaras Bruder Adam auf der Täterseite, Yann auf der Opferseite. Alle drei erinnern sich an die Vergangenheit, wie es ihnen nach der Gewalttat ergangen ist – und in welcher Weise sie Barbaras Suizid berührt. Aus all den Puzzleteilen erschliesst sich die Geschichte rund um Erinnerung und Schuld, um Gemeinschaft und Aussenseiter, um verdrängte Homosexualität.
Wie bereits in ihrem poetischen Erstling «Storchenbiss» von 2012, der unter dem Namen Yael Pieren erschien, erzählt die junge Autorin von traumatischen Ereignissen, die in der Gegenwart nachhallen. Über die Macht der Erinnerungen sinniert etwa ihre Figur Nora: «Dieses Gedächtnis. Davor begann ich mich zu fürchten. Vor dem Körper, der sich erinnert. Er ist so viel schlauer als der Kopf, der irgendwie zusammenwirft, auseinanderschnippelt, beiseiteschiebt. Ihm kann man keine Geschichten erzählen. Er lässt sich nicht überlisten.»
Ein dichter Roman in bildhafter Sprache
Die Basler Autorin Yael Inokai studiert an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin Drehbuchschreiben und arbeitet als freie Journalistin sowie als Fremdenführerin im Tempelhofer Flughafen. Mit «Mahlstrom» gelingt ihr ein dichter Roman in bildhafter, klarer Sprache. Jeder der drei erzählenden Figuren verleiht sie eine eigene Stimme, einen eigenen Tonfall, und kreiert daraus eine vielschichtige Kindheits- und Jugendgeschichte.
Buch
Yael Inokai
Mahlstrom
280 Seiten
(Rotpunkt, Edition Blau 2017).
5 Fragen an Yael Inokai
«Man gehört nie nur sich selbst»
kulturtipp: Welche Idee, welcher Satz oder welches Bild stand im Schreibprozess am Anfang Ihres Romans «Mahlstrom»?
Yael Inokai: Am Anfang stand das Bild der Wartenden: Ein Dorf hat eine Tote geborgen. Noch sind die näheren Umstände nicht bekannt. Es war eine junge Frau, und man wartet darauf, dass das auf Interesse stösst. Aber dann kommen weder Reporterinnen noch Schaulustige. Die Bewohner bleiben mit sich und der Tragödie alleine.
Bereits Ihr Erstling handelt von den Folgen traumatischer Ereignisse, von wieder-kehrenden Erinnerungen. Warum fasziniert Sie dieses Thema literarisch?
Der Mensch verdrängt Traumatisches, das liegt in seiner Natur. Aber die Ereignisse schreiben sich trotzdem in Kopf und Körper ein und verlangen danach, gesehen zu werden.
Dieser Vorgang, der immer eine – manchmal verschwin-dend kleine – Chance auf einen Neuanfang ermöglicht: Der fasziniert mich.
«Mahlstrom» siedeln Sie in einem Dorf, vermutlich in der Schweiz, an. Welche Mechanismen dieser engen Dorfgemeinschaft haben Sie interessiert?
Man hat Erwartungen daran, wer du sein wirst, noch bevor du auf der Welt bist, und behandelt dich danach. Du gehörst nie nur dir selbst. Gleichzeitig bist du aufgehoben: Verschwinden kannst du nur, wenn du gehst. Aber seien wir mal ehrlich: So etwas trifft nicht nur auf Dörfer zu.
Sie studieren Drehbuchschreiben in Berlin. Hat diese Art des Schreibens auch Ihren Roman beeinflusst?
Der Text ist bestimmt reduzierter und kantiger als meine vorherigen, anders «geschnitten» und von meiner Liebe zur Bildhaftigkeit geprägt. Inspiriert die «Künstlerstadt» Berlin
Ihr nächstes Projekt? Woran arbeiten Sie zurzeit?
Berlin kommt in meinen Texten so gut wie nie vor, wahrscheinlich, weil ich meinen Alltag da habe. Gut vorstellbar, dass sich das ändern wird, sollte ich einmal woanders leben. Gerade schreibe ich an meinem Diplombuch, einer Komödie – mal schauen, wie viel es noch zu lachen gibt, wenn ich fertig bin.