kulturtipp: Barrington, der Protagonist von «Mr. Loverman», ist ein 74-jähriger homosexueller Immigrant. Eine mutige Auswahl für eine Hauptfigur.
Bernardine Evaristo: Als ich anfing, zu schreiben, und Barrington sich als schwul outete, war ich sehr aufgeregt. Diese Figur als homosexuell zu schreiben, fühlte sich waghalsig an, denn ich schrieb über eine Generation von Menschen aus der Karibik, die sonst allgemein als heterosexuell gelesen wird.
Auch in Ihrem Roman «Mädchen, Frau etc.» tauchen einige ältere Semester auf. Haben es Frauen ab 60 in der Literatur schwer?
Das Problem ist, dass ältere Frauen in der Belletristik unsichtbar sind. Selbst wenn die Bücher von älteren Autorinnen geschrieben werden, konzentrieren sich diese auf jüngere Charaktere. Jüngere Schriftstellerinnen wiederum schreiben selten über Frauen zwischen 50 und 80 Jahren – und falls doch, ist es schwierig für sie, sich Frauenfiguren mit einem erfüllten Leben vorzustellen.
Wie sieht es im Literaturbetrieb selbst aus?
Ähnlich wie sich Hollywood auf junge, attraktive Frauen konzentriert, ist auch die Verlagsbranche altersdiskriminierend. Hier liegt der Fokus ebenfalls oft auf Jugendlichkeit anstelle von Erfahrung. Viele aufstrebende, insbesondere schwarze Autorinnen haben oft keine lange Karriere. Ich habe mittlerweile ein Alter erreicht, in dem ich über ältere Figuren schreiben kann.
Apropos Hollywood: TV-Adaptionen für Streamingdienste werden immer wichtiger. Denken Sie während des Schreibprozesses daran?
Nein. Ich muss der Geschichte, die ich erzähle, treu bleiben und kann dabei nicht an ein anderes Medium denken. Als experimentelle Schriftstellerin kann ich nicht plötzlich eine konventionellere Geschichte schreiben, nur damit sie möglicherweise fürs Fernsehen aufgegriffen wird.
Ihre Romane «Mädchen, Frau etc.» und «Mr. Loverman» wären tolle Serien …
Tatsächlich befinden sich die beiden Romane im Moment in Entwicklung fürs Theater und Fernsehen. Ich kann noch nicht viel verraten, ausser, dass ich an einem der Projekte beteiligt sein werde.
Sie sind in einem überwiegend weissen Viertel im Süden Londons aufgewachsen. Was hat sich seit Ihrer Kindheit verändert?
Die Gesellschaft ist progressiver und offener geworden. Positiv ist auch die Tatsache, dass die Stadt so unglaublich multikulturell und kreativ ist.
Was hat sich verschlechtert?
Die Politik – und das betrifft das ganze Land – ist in einer Weise degradiert, wie sie es nicht einmal zu Zeiten Margaret Thatchers war. Das Ausmass an Korruption, Täuschung und Unehrlichkeit sowie die rechtsgerichteten Medien, die diese Verkommenheit der Politik zulassen, machen mir im Moment wirklich Sorgen.
In Ihren Memoiren «Manifesto» bezeichnen Sie London als Ihre Muse. Auch für Charles Dickens war die Stadt ein zentrales Thema. Was würde er von der modernen Metropole halten?
Einzelne Aspekte wie die dynamische, multikulturelle Gemeinschaft würde er bestimmt mögen, aber er wäre sehr kritisch. Er würde die Armut, die momentan in Grossbritannien um sich greift, sowie die soziale Ungerechtigkeit im staatlichen Gesundheitswesen, im Strafvollzug oder Bildungssystem durch seine Geschichten aufdecken.
Sie zeigen in Ihren Romanen auf entwaffnende Weise die Mechanismen von Identitätspolitik auf. Haben Sie einen Rat für all die zerstrittenen Gruppierungen?
Es ist wichtig für Menschen, Teil einer Gemeinschaft zu sein und sich für deren Rechte einzusetzen. Heute geht es aber oft nur noch darum, seine eigene Meinung via Social Media hinauszuposaunen und Aufmerksamkeit durch Empörung zu erregen. Wir müssen lernen, den Standpunkten anderer Menschen gegenüber aufgeschlossen zu sein, und versuchen, Kompromisspositionen zu finden.
Im Jahr 2019 gewannen Sie als erste schwarze Schriftstellerin den Booker Prize. Was hat sich dadurch für Sie verändert?
Meine Bücher verkaufen sich gut und werden in viele Sprachen übersetzt. Und man bringt mir als Schriftstellerin eine andere Art von Respekt entgegen. Durch meine Bekanntheit habe ich eine grosse Plattform erhalten, man hört mir zu.
In «Manifesto» schreiben Sie, dass Sie Ihre Kämpfe mit Worten austragen. Was war Ihre bislang grösste Herausforderung?
Nur eine? (lacht) Da ist zum einen der Kampf, ein kreatives Leben zu führen und davon leben zu können. Und dann ist da der Kampf gegen eine unterdrückende Gesellschaft. Denn als schwarze Frau muss man für sein Recht kämpfen, gehört und ernst genommen zu werden. Momentan befinde ich mich allerdings in einer starken Position. Ich mache meinen Mund auf und äussere mich.
Dabei scheinen Sie nie Ihren Humor zu verlieren.
Ich erlaube mir als Schriftstellerin, meinen Sinn für Humor durchschimmern zu lassen, ja. Wir müssen über uns selbst und andere lachen – das bedeutet es doch, ein Mensch zu sein.
Buch
Bernardine Evaristo
Mr. Loverman
Aus dem Englischen von Tanja Handels
336 Seiten (Klett-Cotta 2023)
Scharfsinniger Blick
Bernardine Evaristo, geboren 1959 in London, ist Professorin für kreatives Schreiben an der Brunel University und stellvertretende Vorsitzende der Royal Society of Literature. Nach ihrem Bestseller «Mädchen, Frau etc.» liegt nun der 2013 erschienene Roman «Mr. Loverman» in deutscher Übersetzung vor. Mit ihrem scharfsinnigen Blick für glaubhafte, lebensechte Figuren erzählt Evaristo die rührende Geschichte eines homosexuellen Einwanderers aus der Karibik, der seit Jahrzehnten eine heimliche Beziehung führt.