Wie so oft schafft es die Belgierin Amélie Nothomb auch in «Das Buch der Schwestern», mit ihrer klaren und sanften Sprache eine ungewohnte Perspektive zugänglich zu machen. Nora und Florent lieben sich, sie brauchen nur einander, es ist eine ewige Romanze.
Und weil man das halt so macht, bekommen sie ein Kind. Doch für ihre Tochter Tristane hat das Paar keine Liebe mehr übrig. Tristane ist ein einsames, ausserordentlich intelligentes Kind.
Schon früh lernt sie Wörter, spricht diese jedoch lange Zeit nicht aus, um nicht zu stören.
Tragische Geschichte in kindlichem Plauderton
Ihr Talent bemerkt einzig ihre Tante Bobette. Die Alkoholikerin hat mit 22 bereits vier Kinder, lebt in einer Sozialwohnung und bezeichnet jeden als «Fascho», der sie nach dem Vater der Kinder fragt.
Für Tristane empfindet Bobette glühende Bewunderung und macht sie mit nur vier Jahren zur Patin ihrer jüngsten Tochter Cosette: «Meine Tochter soll die französische Präsidentin als Patin haben.» Ähnlich wie Roald Dahl in «Matilda», beschreibt Amélie Nothomb die tragische Familienkonstellation in fast kindlichem Plauderton, in den sich poetische Elemente mischen.
Auf Anraten des Umfelds wird Nora erneut schwanger. Und als Tristane die Schwester zum ersten Mal im Arm hält, ist alles anders. «Zwei Planeten richteten sich aneinander aus, so exakt, dass eine nur für sie hörbare Musik erklang.»
Die Schwesternbeziehung ist zwar durch die der Eltern determiniert, hat aber eine ganz andere Qualität. Denn während Nora und Florent ewig verliebt aufeinander fixiert sind, verbindet Laetitia und Tristane eine Liebe, in der Platz für Freiheit und Wachstum ist.
Alles, was ihr von den Eltern verwehrt wurde, gibt Tristane nun Laetitia. Doch die beiden Schwestern trennt etwas Unüberbrückbares: Laetitia würde nie Angst haben müssen, nicht geliebt zu werden, während diese Angst Tristanes ewige Begleiterin ist. Als Tristane schliesslich nach Paris geht, um Literatur zu studieren, muss sich die Schwesternliebe neu erfinden.
Der Roman berührt, ohne kitschig zu sein
Amélie Nothomb stellt mit diesem psychologischen Roman gesellschaftliche Fragen rund um Elternschaft, Romantik und Familienbande. Unerschrocken drängt sie zum Kern des Traumas, tröstet im gleichen Atemzug und tappt dabei auch einige Male in die Klischeefalle.
Nothomb erschafft mit wenigen Worten differenzierte Bilder, zeigt, wie unterschiedlich Formen der Liebe sein können, und berührt, ohne kitschig zu sein. Ein ungewöhnlicher und starker Entwicklungsroman, für den die Schriftstellerin den «Prix Jean Monnet de littérature européenne» bekommen hat.
Amélie Nothomb
Das Buch der Schwestern
Aus dem Franz. von Brigitte Grosse
159 Seiten
(Diogenes 2024)