«Als wir das Hotel verliessen, fiel ein leichter feiner Regen, wie im Oktober in Tokio bisweilen üblich. » Lakonisch beginnt der zweite Roman der Australierin Jessica Au, in dessen Zentrum die Sprachlosigkeit zwischen Mutter und Tochter steht.
Erzählt wird die Geschichte aus Sicht der namenlos bleibenden Tochter, die bereits am Romananfang den Grund für die Wahl des gemeinsamen Reiseziels transparent macht: «Japan hatte ich gewählt, weil ich, im Gegensatz zu ihr [der Mutter], schon einmal dort gewesen war, und ich dachte, die Erkundung eines anderen asiatischen Landes könnte ihr vielleicht gefallen. Ausserdem stellte ich mir vor, dass wir dort beide Fremde und somit gleichberechtigt wären.»
Die Unterschiede könnten nicht grösser sein
Vor der Reise macht sich die Ich-Erzählerin Gedanken über die möglichen Aktivitäten, legt auf ihrem Rechner einen eigenen Ordner an, plant und denkt voraus, möchte nichts dem Zufall überlassen. Die Reise scheint für sie einen hohen Stellenwert zu haben: «Am Anfang hatte sie [die Mutter] sich gesträubt, aber ich drängte sie, und irgendwann stimmte sie zu …», heisst es im Roman.
Die Unterschiede zwischen Mutter und Tochter könnten nicht grösser sein: So lässt die Mutter, aus eher ärmlichen Verhältnissen stammend und später von Hongkong nach Australien ausgewandert, die Welt mehr oder weniger ungefiltert in sich eindringen. Sie will nicht alles verstehen, ist zufrieden, wenn eines zum anderen kommt. In ihrem bisherigen Leben hat sie es nicht leicht gehabt: In einem fremden Land brachte sie ihre beiden Töchter zur Welt, ermöglichte ihnen den Zugang zu höherer Bildung und führte selbst ein bescheidenes Leben.
An einer Textstelle wird ihre Haltung zur Welt besonders deutlich: «Heutzutage, sagte sie, wollten die Menschen alles wissen und bildeten sich ein, sie könnten alles verstehen, als warte die Erleuchtung gleich hinter der Ecke. Aber in Wirklichkeit gäbe es keine Kontrolle, und Verständnis lindere keinen Schmerz.»
Die Mutter, ihre Familie, die Natur und Kunst
Die Ich-Erzählerin glaubt hingegen fest an den Augen öffnenden Wert geistiger Bildung, will alles intellektuell durchdringen. Mithilfe ihrer feinen Antennen tastet sie die Welt ab, lotet sie gedanklich aus. Und so bleibt die Kluft zwischen Mutter und Tochter unüberbrückbar – egal, ob sich beide beim Essen still gegenübersitzen, Museen und Tempelanlagen besuchen oder gemeinsam in Buchläden stöbern.
Erst gegen Ende hin relativiert die Tochter ihre eigene Denkposition: «Vielleicht, dachte ich erschöpft, war es ja in Ordnung, wenn man nicht alles verstand, wenn man Dinge einfach wahrnahm und festhielt.»
Für ihren kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Roman hat die in Melbourne lebende Autorin 2020 den neuen internationalen Novel Prize erhalten. Auf den 121 Buchseiten begegnet einem ein unaufgeregtes, filigran tastendes Erzählen. Die Sätze wirken fein bearbeitet und durchdacht.
Erstaunlich, wie weit die Erzählerin über die stumme Beziehung zur Mutter hinaus nachdenkt, Natur und Kunst, ihren Freund, den Onkel oder auch die Schwester ins Zentrum ihrer Reflexionen rückt. Eine klare Leseempfehlung!
Jessica Au - Kalt genug für Schnee
121 Seiten (Suhrkamp 2022)