Der junge Dan liebt seine Ehefrau Bea – und umgekehrt: «Ihr kleines Tattoo war für ihn ein Zeichen, dass das Schicksal sie füreinander bestimmt hatte und sie das Licht ist, das ihm den Weg leuchtete.» Die beiden sind frisch verheiratet, haben sich in einer kleinen Wohnung hübsch eingerichtet. Sie nagen nicht am Hungertuch, müssen sich aber finanziell bescheiden. Er arbeitet im Sozialwohnungswesen, sie ist Psychotherapeutin in Ostlondon.
Geschichte mit sozialkritischem Fokus
Mit der Schilderung dieser Beziehungsidylle steigt die englische Schriftstellerin Sadie Jones in ihren neuen, vierten Roman «Die Skrupellosen» ein. Sie ist in einem künstlerisch inspirierten Haushalt aufgewachsen. Ihr aus Jamaica stammender Vater ist ein in England gefeierter Bühnenautor, ihre Mutter war Schauspielerin. Sadie Jones schaffte 2008 den Durchbruch mit dem Roman «Der Aussenseiter». Er erzählt aus der Sicht eines Jungen von den Lügen der Erwachsenen in der englischen Nachkriegszeit. Schon mit diesem Buch vermochte Jones eine spannende Geschichte mit sozialkritischem Fokus zu erzählen, die nicht ins Dozierende kippt.
Auch im neuen Roman steht eine Familiengeschichte im Mittelpunkt: Die Protagonistin Bea ist die Tochter eines der reichsten Männer Londons, der im Immobilienhandel ein Vermögen scheffelte. Ihr aus bescheidenen Verhältnissen kommender Mann Dan weiss zwar, dass er in eine wohlhabende Familie geraten ist. Aber er hat keine Ahnung vom schier unermesslichen Reichtum der Familie Beas. Denn Bea verschweigt ihm ihren familiären Hintergrund, weil sie vom Geld des Vaters nichts wissen will.
Ein folgenreicher Besuch beim Bruder
Das Versteckspiel dauert an, bis Bea und Dan ferienhalber in das Burgund fahren. Sie besuchen bei Bourg-en-Bresse Beas Bruder Alex, der dort angeblich ein Hotel führt. Tatsächlich haust er aber alleine in einem heruntergekommenen Laden und trägt lediglich zum Vergnügen die Namen fiktiver Besucher in das Gästebuch ein. Alex lebt in einer von Drogen vernebelten Traumwelt und verweigert jeden Realitätsbezug. Als Überlebensstrategie flüchtet er sich in Zitate der französischen Philosophin und Antifaschistin Simone Weil, die ihm etwas Halt verleihen: «Das Gebet ist nichts anderes als Aufmerksamkeit in ihrer reinsten Form.»
Die Geschichte nimmt ihren fatalen Lauf, als Beas Eltern, der steinreiche Vater und die hysterische Mutter, auftauchen, um für Ordnung zu sorgen. Vergeblich, denn Alex wird kurz nach ihrer Ankunft tot in einem Auto aufgefunden. Die Polizei spricht zuerst von einem Verkehrsunfall, bald von einem Verbrechen. Dan wird festgenommen; er ist dunkelhäutig.
Das Burgund als Ort der Tragödie
Sadie Jones hat mit dieser Geschichte vordergründig das Krimigenre gewählt. Tatsächlich erzählt sie ein familiäres Sozialdrama, das sich nur um eines dreht: Geld. Der Vater ist versessen auf seinen Reichtum, seine Frau kümmert sich um die gesellschaftliche Anerkennung. Die Tochter weigert sich stur, von diesen Eltern nur einen Penny anzunehmen. Aber Dan kommt nach und nach auf den Geschmack des Reichtums der Schwiegereltern. Er ist nicht der Einzige, viele Leute gieren danach.
Die britische Presse schätzte den Roman als ein literarisches Ereignis, warnte aber vor dem brutalen Schluss. So schrieb der «Guardian»: «Das Böse kommt in menschlicher Erscheinung daher. Die Gutmeinenden sind machtlos, sich selbst und ihre Liebsten zu schützen.»
Der Ort der Tragödie, Bourg-en-Bresse, liegt unweit der Schweizer Grenze. Sadie Jones hat ihn bewusst gewählt. Denn wenn man ihr glauben darf, lohnt es sich für britische Immobilienspekulanten immer noch, einen Teil ihres Vermögens in der Schweiz zu bunkern. Das kann allerdings gehörig in die Binsen gehen.
Fünf Fragen an Sadie Jones
«Geld macht gewissenlos»
kulturtipp: Sie unterstellen in Ihrem neuen Roman, dass Geld die Menschen korrumpiert – warum eigentlich?
Sadie Jones: Mein Buch stellt genau diese Frage. Ich hoffe, dass ersichtlich ist, wie sich einzelne Protagonisten korrumpieren lassen und weshalb. Geld macht gewissenlos. Das ist nicht so sehr meine Meinung, sondern eher eine Beobachtung, die ich mache. Es gibt unter den Superreichen kaum glückliche Menschen, was irgendwie faszinierend ist.
Gibt es eine Grenze, die man finanziell besser nicht überschreitet?
Ich mag diese Frage, denn meine Figuren räsonieren genau darüber. Es gibt tatsächlich Studien, die exakt festhalten, ab welchem Geldbetrag das menschliche Glück leidet. Grosse Armut macht die Menschen unglücklich, ebenso wie das Gegenteil. Es gibt einen goldenen Mittelweg. Zumindest sagen das die Wissenschafter; ich finde diesen Befund tröstlich.
Woher kommt Ihr strenger moralischer Anspruch?
Habe ich den? Ich glaube eher, dass alle Menschen stets bestrebt sind, Gerechtigkeit walten zu lassen, auch wenn das etwas unzeitgemäss tönt. Jedermann verabscheut Ungerechtigkeit und will selbst unbedingt das Richtige tun. Darum rebellieren meine Protagonisten dermassen hef-tig gegen das Unrecht, das ihnen in der Vergangenheit widerfahren ist. So sucht einer der Protagonisten seelischen Halt in einer spirituellen Welt.
Wie stark sind Sie selbst von der eigenen Vergangenheit geprägt?
Egal, ob wir sie akzeptieren oder verdrängen – die Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln. Das menschliche Dasein beruht auf dem Gestern.
Als Leser wünschte man sich ein Happy End, warum gönnen Sie es uns nicht?
Dieses Buch erzählt eine Tragödie. Es enthält keinen einzigen Hinweis auf eine glückliche Wende. Aber es stimmt, man hofft dennoch stets auf ein Happy End. Wir leben in der Hoffnung und lesen anscheinend auch Romane so.
Buch
Sadie Jones
Die Skrupellosen
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
464 Seiten
(Penguin 2021)