Wenn eine Zoologin mit Spezialgebiet Hyänen einen Entwicklungsroman schreibt und diesen millionenfach verkauft, drängen sich Fragen auf. Was machte aus der Feldforscherin Delia Owens eine Romanautorin? Welcher Art ist die Geschichte, mit der sie reihum Leserinnen und Leser betört? Und warum gibt man den 450-Seiten-Wälzer mit dem irritierenden Titel «Der Gesang der Flusskrebse», hat man einmal zu lesen begonnen, nicht mehr aus der Hand?
Kräftige Bilder, zuweilen nahe am Kitsch
Delia Owens ist 1949 in Georgia geboren, lebte jahrzehntelang in Afrika, wo sie nebst Hyänen auch Löwen und Elefanten erforschte. Vor kurzem liess sie sich in North Carolina nieder. Dort hatte sie als Kind mit ihren Eltern die Sommerferien verbracht. Und dort spielt auch ihr Roman, dessen Hauptfigur ein Mädchen ist, das in und mit der Natur lebt. Kya ist sechs Jahre alt, als sich ihre grosse, aber zerrüttete Familie auflöst. Als Letzte fliehen Mutter und Lieblingsbruder vor dem gewalttätigen Mann und Vater, der ebenfalls verschwindet. Kya bleibt allein in einer Hütte mitten im Ufersumpf des Atlantiks. Sie weiss vieles für ihr Alter, hilft sich selbst, lernt täglich dazu. In der Schule, wo sie die Kinder als Sumpfmädchen verspotten, bleibt sie einen einzigen Tag.
Der Roman begleitet die junge Aussenseiterin Kya, die sich über die Jahre ihrer Kindheit und Jugend in ihrer Einsiedelei einrichtet. Die beissende Einsamkeit lindert sie durch die Erkundung der Natur. Sie freundet sich mit Möwen an, beobachtet Bäume. All dies beschreibt Naturwissenschafterin und Sachbuchautorin Delia Owens in einer überraschend poetischen Sprache. «Herbstblätter fallen nicht, sie fliegen. Sie nehmen sich Zeit und geniessen ihre einzige Chance, frei zu sein.» Mit Sätzen wie diesen schafft Owens kräftige Bilder, die zuweilen am Kitsch ritzen, ihm aber niemals zum Opfer fallen. Gleiches gelingt ihr in der Schilderung aufkeimender Liebe und Triebe.
Gefährliches Spiel der Liebe
Der Fischerjunge Tate bringt Kya Lesen und Rechnen bei und legt damit den Grundstein zu einer Liebe, die sie lange nicht versteht. «Sie lachte ihm zuliebe, was sie noch nie getan hatte. Verschenkte ein weiteres Stück von ihr selbst, nur um jemand anderen in ihrer Nähe zu haben.» Um diese Nähe balzt auch der wilde Chase, der Kya zeigt, was sie schon von den Glühwürmchen kennt: zu welch gefährlichem Spiel die Liebe werden kann.
Die Autorin verwebt die Geschichten dieser drei Protagonisten zu einem Plot, der stetig an Intensität und Spannung gewinnt und hier nicht entzaubert werden darf.
«Der Gesang der Flusskrebse» ist ein kunstvoll gefertigtes Amalgam aus Entwicklungsroman, Liebesgeschichte und Krimi. Hauptsächlich in den 1950ern und 1960ern angesiedelt, spiegelt der Roman zudem die fragile US-Gesellschaft in Zeiten der Rassentrennung. Kya ist zwar weiss, als Ausgestossene aber ebenso geächtet wie der schwarze Tankwart Jumpin’, der sich prompt als ihr treuester Freund erweist. In Sicherheit aber weiss sie sich nur an jenem geheimnisvollen Ort, wo die Flusskrebse singen.
Nach der Lektüre bleibt das Staunen darüber, was diesen Roman einer knapp 70-jährigen Autorin auszeichnet. Man wird erinnert an ein anderes Debüt: 1993 sorgte die damals 58-jährige Kanadierin E. Annie Proulx mit «Schiffsmeldungen» für eine literarische Sensation. Wie Proulx nimmt Delia Owens gefangen mit einer ureigenen Sprache, die bewegt, überrascht und süchtig macht.
Buch
Delia Owens
Der Gesang der Flusskrebse
460 Seiten
(Hanserblau 2019)