Bekannt wurde der österreichische Schriftsteller Daniel Glattauer mit seinem E-Mail-Liebesroman-Bestseller «Gut gegen Nordwind» (2006). Neun Jahre nach seinem letzten Buch, der Komödie «Die Wunderübung», legt er nun sein politischstes Werk vor. Sein neuer Roman «Die spürst du nicht» beginnt idyllisch in der Toskana, wo zwei gut betuchte, befreundete Wiener Familien eine Villa mit Pool gemietet haben.
Mit wenigen Strichen skizziert Daniel Glattauer gleich zu Beginn die Charaktere: auf der einen Seite den umgänglichen, aber oberflächlichen Nobelwinzer Engelbert Binder und seine grazile Frau Melanie, die im Lauf der Handlung ungeahnte Kräfte zeigen wird. Auf der anderen Seite den empathielosen Besserwisser Oskar Marinek und seine Frau, die Grünen-Politikerin Elisa Strobl-Marinek, die versucht, Familie und Karriere zu stemmen.
Zu den beiden kleineren Kindern kommt die 14-jährige Tochter der Strobl-Marineks: die selbstbewusste Sophie Luise, die sich als Reisebegleitung ihre Schulkameradin Aayana ausgewählt hat – ein scheues, traumatisiertes Flüchtlingsmädchen aus Somalia, der sie die Vorteile der westlichen Welt zeigen und das Schwimmen beibringen will. «Das ist ja wirklich eine Süsse, und so brav, die spürst du gar nicht», wird Engelbert beim gediegenen Apéro über Aayana sagen – die Runde gefällt sich in der Rolle des westlichen Wohltäters.
Der Umgang mit Schuldgefühlen
Dass dieser Kulturclash nicht gut kommen kann, wird nach der Lektüre weniger Seiten klar. Und tatsächlich geschieht am ersten Abend am Swimmingpool ein tragisches Unglück, das sich vielleicht hätte verhindern lassen, wenn nicht ein grosses Unverständnis und Unwissen gegenüber Aayanas Kultur und ihrer Fluchtgeschichte geherrscht hätte.
Glattauer rollt nun aus unterschiedlicher Perspektive auf, was nach den abgebrochenen Ferien passiert: wie verschieden die Erwachsenen mit ihren Schuldgefühlen umgehen, wie sich der Teenager Sophie Luise unbemerkt in die eigene Internet-Parallelwelt zurückzieht, wie die Gesellschaft teilweise zynisch oder hämisch auf die in den Medien breitgewalzte Tragödie reagiert. Aussen vor bleibt vorerst der Blickwinkel der somalischen Familie, in der nur der älteste und einzig verbliebene Sohn ein wenig Deutsch spricht.
In der Gesellschaft haben sie keine Stimme, ihr Schicksal interessiert die wenigsten. Daniel Glattauer hält den Spannungsbogen mit dramaturgischen Kniffen spielend bis zum Schluss aufrecht. Dabei bedient er sich teilweise satirischer Mittel, überspitzt zuweilen gar so stark, dass es fast schon pauschalisierend wirkt. Ab und zu formuliert er auch zu klar aus, erklärt, wo keine Erklärung nötig wäre. Dennoch gelingt es Glattauer, mit seiner Geschichte zu packen. Er entlarvt die Doppelmoral der Gesellschaft und ihren Umgang mit Migration – und forscht nach der Menschlichkeit in uns allen.
Die Tragödie endet vor Gericht
Wie schon in früheren Romanen mischt Daniel Glattauer die Textformen: Filmische Szenen und Dialoge wechseln sich ab mit Pressemitteilungen, Kommentaren aus Internetforen, Social-Media- Textnachrichten oder dem Report aus dem Gerichtssaal. Denn vor Gericht wird die Tragödie enden. Und dort erst wird auch die somalische Familie erstmals zu Wort kommen und ihre Sicht darstellen können.
Lesungen
So, 7.5., 20.00 Kaufleuten Zürich
Mo, 8.5., 19.00 Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern
Di, 9.5., 20.00 Kornhausbibliothek Bern
Buch
Daniel Glattauer - Die spürst du nicht
304 Seiten (Zsolnay 2023)